31. August - 27. September 2012, Beautiful British Columbia

British Columbia, kurz BC, die Pazifikprovinz Kanadas, ist vielseitig. Neben Weltstädten wie Vancouver und Victoria bietet BC eine unvergleichliche, teilweise noch unberührte Natur. Endlose Küstenkilometer mit zahllosen vorgelagerten Inseln, tiefen Fjorden und Buchten, die selbst im Sommer schneebedeckten Bergketten der Coast Mountains und der Rocky Mountains, unzählige Seenlandschaften sowie in ihrer Art einmalige Regenwälder bestimmen das Bild der Provinz. BC hat vier Mio. Einwohner und umfasst eine Fläche von 948.596 qkm. Damit ist die Provinz so groß wie Deutschland, Österreich, Frankreich, Holland und Belgien zusammen. Die indianischen Ureinwohner werden als "First Nations" bezeichnet. 197 ver- schiedene Stämme haben ihre Heimat in BC, unter ihnen die Haida, die Gitxsan, die Gitga'at und die Squamish.

 

Als wir im Juni in Hilo, Hawaii, waren, schenkte uns beim Aussteigen aus einem Bus ein Unbekannter ein National Geographic Heft. Titelstory: Die letzten wilden Plätze Amerikas. Titelfoto: Ein Schwarzbär mit fast weißem Fell, ein sogenannter "Spirit Bear". Im Heft lasen wir über die bislang wenig bekannten Bären sowie über die Kontroversen um die geplante "Northern Gateway" Pipeline. Damals ahnten wir noch nicht, dass wir genau in diese Gegend British Columbias kommen würden.

Bammel vor der Einreise

Die bevorstehende Einreise nach Kanada bereitet uns etwas Sorge, denn den Behörden eilt unter Seglern der Ruf voraus, die Vorschriften buchstabengetreu anzuwenden und auch bei kleinen Abweichungen kein Pardon zu kennen. Dummerweise gibt es ein paar Vorschriften, die wir beim besten Willen nicht erfüllen können und wollen. Z.B. darf man eigentlich keine verschreibungspflichtigen Medikamente nach Kanada einführen. Tut man es doch braucht man ein Schreiben vom Arzt, der bestätigt, dass man dieses Medikament benötigt. Für die Beschaffung unserer umfangreichen Bordapotheke war auch in Deutschland die Unterschrift eines Arztes notwendig, aber dieses Papier hat nun die Apotheke. Wer die kanadische Vorschrift erlassen hat, dem war wohl nicht klar, dass für Fahrtensegler eine gut ausgestattete Bordapotheke außerhalb Kanadas lebensnotwendig sein kann, und dass man die Medikamente an Landesgrenzen nicht mal eben loswerden und wiederbeschaffen kann. Das zur Selbstverteidigung an Bord befindlichen Pfefferspray gilt in Kanada als Waffe und darf ebenfalls nicht eingeführt werden. Dabei gibt es in Kanada Bärenspray in richtig großen Dosen zu kaufen, mit denen man bis zu 10 Meter weit sprühen kann, viel weiter als mit unseren Döschen im Handtaschenformat – und Bärenspray ist nichts anderes als Pfefferspray – das verstehe einer... Und es dürfen keine Milchprodukte eingeführt werden. Müssen wir jetzt, nur weil wir nach Kanada wollen, unsere paar in Dosen eingeschweißte Camemberts – unsere "Notfall-Reserve" für Länder, die nicht mal wissen, wie man Käse schreibt, sinnlos aufbrauchen? Wer weiß ob wir jemals wieder in Dosen eingeschweißten Käse finden. Nein, unsere mühsam besorgten Delikatessen vernichten wir nicht einfach so. Dennoch, vor der Einreise nach Kanada essen wir tagelang nach dem Motto "schnell noch vernichten, was uns irgendjemand an der Grenze wegnehmen könnte und was wir wahrscheinlich wieder kaufen können". Einerseits eine schmackhafte Angelegenheit, andererseits aber weit weniger zu genießen, als wenn alle paar Tage mal ein einzelnes Highlight auf den Tisch kommt.

 

Glücklicherweise hat ein Schiff unvorstellbar viele Ecken in denen sich Sachen unauffällig unterbringen lassen. Alle Dinge, die ggf. Missfallen erzeugen oder komplizierte Fragen aufwerfen könnten, stauen wir tief nach unten weg. Letztlich verläuft die Einklarierung dann extrem einfach und bequem. Gleich nach unserer Ankunft rufen wir "Customs und Border Protection" an und berichten unsere Ankunft. Der Beamte stellt am Telefon ein paar Fragen, die ich alle wahrheitsgemäß beantworte – nur das Bärenspray muss ich in der schnell runter geratterten Aufzählung der verbotenen Waffen überhören. Telefonisch bekomme ich unsere Einklarierungs-Nummer mitgeteilt, die wir von außen gut sichtbar im Schiff anbringen sollen. Damit sind wir offiziell einklariert und dürfen Kanada bereisen. Wir bekommen noch nicht mal einen Stempel in den Pass. Auf Nachfrage heißt es, als Einreisebeleg sollten wir einfach einen Zettel mit der Einklarierungs-Nummer und dem Datum der Einreise in den Pass kleben, das genüge. Andere Länder, andere Sitten, das gilt offensichtlich auch für Kanada.

 

Als wir die Formalitäten erledigt haben und an Land gehen dürfen, fühlen wir uns gleich wohl. Wir erleben British Columbia als gezähmte Wildnis. Das Hinterland ist genauso wild wie Alaska, aber man merkt, dass hier mehr Menschen leben, dass mehr Handel betrieben wird und dass BC etwas weniger abgeschieden ist als Alaska. Prince Rupert, wie auch fast alle nachfolgenden Ortschaften sind picobello gepflegt und wir laufen mal wieder durch Straßen mit "richtigen Häusern", aus Stein, groß, komfortabel und ansehnlich. Prince Rupert ist eine bedeutende Hafenstadt. Hierher kommen die größten Frachter der Welt, die bis zu 360 Meter lang und über 50 Meter breit sind.

Von Prince Rupert aus führt die Inside Passage durch einen bemerkenswerten natürlichen Kanal. Über siebzig Kilometer lang führt der schmale Grenville Channel zwischen Pitt Island und dem Festland kerzengerade nach Südsüdosten. Rechts und links erheben sich steil abfallende Berge, an denen ab und zu ein Wasserfall herunter rieselt. Navigatorisch stellt der Grenville Channel keine Herausforderung dar, mal abgesehen vom etwas erhöhten Schiffsaufkommen hier. Sämtliche Fähren und Kreuzfahrtschiffe fahren den Kanal rauf bzw. runter. Zu beachten ist lediglich, dass im Kanal Gezeitenströme aus Nord und Süd aufeinandertreffen. Mit dem richtigen Timing schiebt uns der einlaufende Flutstrom in der nördlichen Hälfte den Kanal runter und zieht uns der ablaufende Ebbstrom in der südlichen Hälfte raus. Mit Pagena ist die Distanz von Prince Rupert bis zum Ende des Kanals an einem Tag nicht zu schaffen, daher übernachten wir in einer der auf der Festlandseite geschickt gelegenen Buchten. Kurz vor dem Lowe Inlet haben wir im Kanal um die vier Knoten Strom nach Süd. Wir überlegen kurz, ob wir uns spezielle Manöver ausdenken müssen, um nicht versehentlich an der Einfahrt vorbei gespült zu werden. Die Sorge erweist sich aber als unbegründet, die Einfahrt ist weit genug und Pagena kommt problemlos aus der Strömung raus. Im Lowe Inlet ankern wir mit direkter Sicht auf den hübschen Verney Wasserfall. Als wir am nächsten Morgen das Inlet wieder verlassen, entdecken wir, dass wir gestern wohl doch etwas Glück hatten. Bei Niedrigwasser ist ein Riff zu sehen, das wir tags zuvor bei höherem Wasserstand überfahren haben müssen, ohne uns dessen bewusst gewesen zu sein. - Nicht gut so etwas, auch wenn es gutgegangen ist...

 

Der Tag ist grau und kühl, es nieselt leicht und wir haben keine Lust, länger als nötig draußen zu sein. Daher kippen wir den eigentlichen Plan, zu den heißen Quellen von Bishop Cove zu fahren, und laufen nur das nahe gelegene Hartley Bay an, eine Siedlung der Gitga'at Indianer. In Bishop Cove hätten wir aus allernächster Nähe Walen beim Fressen zusehen können, erfahren wir später von einer anderen Yacht. Aber was wir durch Zufall in Hartley Bay entdecken, ist für das Verständnis dessen, wo wir uns derzeit befinden und was British Columbia, ja sogar ganz Kanada, Umweltschützer und die Medien weltweit derzeit bewegt, viel wichtiger.

Erschütternde Entdeckungen in Hartley Bay

Mit der "Nothern Gatway Pipeline" will Kanada groß ins Erdölgeschäft einsteigen. Die Pipeline soll aus dem Norden Albertas nach Kitimat führen, das etwa 100 Kilometer südlich von Prince Rupert liegt. Prince Rupert ist wie schon erwähnt ein bedeutender Überseehafen Kanadas und es gibt schon eine Pipeline dorthin. Warum die nun in Planung befindliche Pipeline nicht auch nach Prince Rupert führen kann, sondern in Kitimat enden soll, ist uns noch nicht klar. Prince Rupert hat einen fast offenen Seezugang, von Kitimat hingegen müssten die Tanker durch schmale Fjorde der Inside Passage und bislang unberührte Landschaften des Great Bear Rainforests fahren. Pipeline-Gegner fürchten, ein Tankerunglück könnte die seltene und für das ökologische Gleichgewicht wertvolle Heimat zahlreicher "First Nations" Stämme zerstören, die unersetzlichen Lebensraum für Bären, Lachse, Wale, Seeadler und viele weitere Tiere darstellt.

Mittlerweile bekämpfen alle Indianerstämme die Pipeline, obwohl der Betreiber ihnen Arbeitsplätze und Beteiligung an den Ein-künften verspricht. Einer der Stämme, denen die Gefahren und Schwach- stellen moderner Großschifffahrt besonders gut bekannt sind, sind die Giga'at Indianer aus Hartley Bay. Erst im März 2006 retteten sie 99 Überlebende der Fähre "Queen of the North", die am Ende des Grenville Channels auf Grund gelaufen und gesunken war. Dass dieses Unglück hin und wieder auch Öltanker ereilt, ist allen spätestens seit der Havarie der Exxon Valdez im Jahr 1989 bekannt, durch die eine schwere Ölpest im Süden Alaskas verursacht wurde. In Hartley Bay und Umgebung sind zahlreiche Poster und Aufkleber zu finden, auf denen "No Tankers" steht. Auch T-­Shirts mit dieser Aufschrift werden angeboten.

 

Ironischerweise laufen wir beide Hartley Bay nicht nur wegen des Wetters an, sondern auch deshalb, weil wir Pagena hier nachtanken können. Da es in der verwinkelten Inselwelt fast nie Wind aus einer brauchbaren Richtung gibt, sind wir auf Diesel angewiesen. Bootstankstellen sind in dieser Gegend nicht üppig gesät, es lohnt sich jede sich bietende Tankgelegenheit zu nutzen. An der Tankstelle des Hartley Bay Stammes lässt sich niemand zur Bedienung blicken und unsere Funkrufe bleiben unbeantwortet. Nach einer halben Stunde Wartezeit antwortet endlich jemand und lässt uns wissen, dass es heute dauern könne, bis jemand für uns Zeit hätte. Ein anderer Bootfahrer informiert, dass der Stamm gerade eine Versammlung abhalte, es könne sein, dass wir bis am späten Nachmittag warten müssten. Wir haben heute viel Zeit, daher ist es uns egal. Wir kleben einen Zettel ans Boot, dass wir gegen 17 Uhr zurück sind und begeben uns auf Entdeckungs- tour. Als erstes lernen wir zwei sympathische Segler aus Vancouver / Victoria kennen. Außer uns sind sie die einzigen Segler hier. Sie stellen sich als Journalisten vor, die hier sind um über das "Northern Gateway" Projekt zu berichten. Später mutmaßen wir, dass die Stammes-Versammlung vielleicht etwas mit ihrer Anwesenheit zu tun haben könnte. Leider sind sie am Abend verhindert, wir hätten gerne zusammen mit ihnen gegrillt.

 

Auch wenn wir es auf unserem nachmittäglichen Spaziergang über den kilometerlangen Holzsteg am Fluss entlang zu einem kleinen See kaum merken – in Hartley Bay sind wir im Auge des Hurrikans gelandet, was den Kampf um die Zukunft des Nordens von British Columbia angeht. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem empfehlen wir den Artikel aus National Geographic Deutschland, "Pipeline durchs Paradies? Wie sich in Westkanada, Indianer und Umweltschützer dagegen zur Wehr setzen" von Bruce Barcott:zu lesen, der hervorragend beschreibt, was vor sich geht. Und auch der auf Tagesspiegel.de zu findende Artikel, "Vergiftetes Klima" gibt interessante Einblicke.

Klemtu - George Robinson erzählt von Vergangenheit und Zukunft der Indianer

Von Prince Rupert aus führt die Inside Passage durch einen bemerkenswerten natürlichen Kanal. Über siebzig Kilometer lang führt der schmale Grenville Channel zwischen Pitt Island und dem Festland kerzengerade nach Südsüd-osten. Rechts und links erheben sich steil abfallende Berge, an denen ab und zu ein Wasserfall herunter rieselt. Navigatorisch stellt der Grenville Channel keine Herausforderung dar, mal abgesehen vom etwas erhöhten Schiffsaufkommen hier. Sämtliche Fähren und Kreuzfahrtschiffe fahren den Kanal rauf bzw. runter. Zu beachten ist lediglich, dass im Kanal Gezeitenströme aus Nord und Süd aufeinandertreffen. Mit dem richtigen Timing schiebt uns der einlaufende Flutstrom in der nördlichen Hälfte den Kanal runter und zieht uns der ablaufende Ebbstrom in der südlichen Hälfte raus. Mit Pagena ist die Distanz von Prince Rupert bis zum Ende des Kanals an einem Tag nicht zu schaffen, daher übernachten wir in einer der auf der Festlandseite geschickt gelegenen Buchten. Kurz vor dem Lowe Inlet haben wir im Kanal um die vier Knoten Strom nach Süd. Wir überlegen kurz, ob wir uns spezielle Manöver ausdenken müssen, um nicht versehentlich an der Einfahrt vorbei gespült zu werden. Die Sorge erweist sich aber als unbegründet, die Einfahrt ist weit genug und Pagena kommt problemlos aus der Strömung raus. Im Lowe Inlet ankern wir mit direkter Sicht auf den hübschen Verney Wasserfall. Als wir am nächsten Morgen das Inlet wieder verlassen, entdecken wir, dass wir gestern wohl doch etwas Glück hatten. Bei Niedrigwasser ist ein Riff zu sehen, das wir tags zuvor bei höherem Wasserstand überfahren haben müssen, ohne uns dessen bewusst gewesen zu sein. - Nicht gut so etwas, auch wenn es gutgegangen ist...

 

Der Tag ist grau und kühl, es nieselt leicht und wir haben keine Lust, länger als nötig draußen zu sein. Daher kippen wir den eigentlichen Plan, zu den heißen Quellen von Bishop Cove zu fahren, und laufen nur das nahe gelegene Hartley Bay an, eine Siedlung der Gitga'at Indianer. In Bishop Cove hätten wir aus allernächster Nähe Walen beim Fressen zusehen können, erfahren wir später von einer anderen Yacht. Aber was wir durch Zufall in Hartley Bay entdecken, ist für das Verständnis dessen, wo wir uns derzeit befinden und was British Columbia, ja sogar ganz Kanada, Umweltschützer und die Medien weltweit derzeit bewegt, viel wichtiger.

Von Hartley Bay aus nehmen wir uns eine lange Etappe mit offenem Ziel vor. Je nachdem wie es unterwegs läuft wollen wir in einem der Inlets von Graham Reach ankern, Butedale oder gar Klemtu anlaufen. Wir erwischen gute Strömungen und kommen flott voran, wir schaffen es vor einbrechender Dunkelheit das Dorf Klemtu zu erreichen.

 

Tags darauf treffen wir in Klemtu George Robinson, einen Angehörigen der "First Nations". Lange hat George bei der Fischfabrik gearbeitet. Er saß vor einem Monitor und beobachtete das Förderband, mit dem Fisch von den anliefernden Booten in die Fabrik befördert wurde. Ein bequemer Job, der George gut gefiel. Irgendwann wurde er gefeuert. George weiß nicht warum, sagt er jedenfalls. Heute verdient er etwas Geld damit, dass er Touristen das "Big House" seines Ortes zeigt und vom Leben der Indianer erzählt. Das Haus wurde vor einigen Jahren in traditioneller Holzbauweise errichtet und dient seinem Stamm als Versammlungsort, an dem die Indianer Klemtus versuchen, ihre schon fast gänzlich in Vergessenheit geratenen Traditionen wieder aufleben zu lassen.

Man trifft sich hier z.B. zum Trommeln. Wenn jemand trommeln möchte ruft er über Funk das ganze Dorf an und schlägt eine Zusammenkunft vor. George gehört zu den Trommlern und er hat offensichtlich viel Spaß an den Trommel-Abenden im Big House, die lange dauern können wenn die "vibes" stimmen, wie er immer wieder strahlend erzählt. Im Big House werden auch große Feste abgehalten, z.B. zu Ehren von Toten. Die Ehrung der Vorfahren spielt eine wichtige Rolle in der indianischen Kultur.

 

Georges Vater z.B. war ein einflussreicher Mann in der Gemeinde, für den hier ein Totenfest gegeben wurde. Zu einem solchen Fest werden benachbarte Indianerstämme eingeladen, es werden Geschenke ausgetauscht und es werden große Mengen traditioneller Gerichte gekocht. Man singt indianische Lieder und dazu werden überlieferte Tänze mit Masken und anderen Regalia aufgeführt. Es ist genau geregelt, wer welches Lied singen und wer welche Geschichte erzählen darf. Handelt das Lied etwa vom Biber, so dürfen es nur Angehörige des Biber-Clans singen. Lieder und Geschichten dienen der Überlieferung von Familiengeschichten und historischem Wissen, das auf diese Weise vor Verfälschung geschützt wird.

 

In Klemtu kannte man die eigenen Lieder kaum noch. Man hat bei anderen Indianerstämmen Genehmigungen eingeholt, deren Lieder singen zu dürfen. Dass das so ist liegt daran, dass in Kanada (wie auch in USA) fast ein Jahrhundert lang indianische Kinder in Umerziehungs-Internate gesteckt wurden. In diesen Internaten wollte man Indianerkinder, fern von Heimatdorf und Eltern, zu "nützlichen" Mitgliedern der von christlichen weißen Siedlern dominierten Gesellschaft Kanadas machen. "Die Stammesbeziehungen müssen aufgelöst, der Sozialismus vernichtet und durch die Familie und die Autonomie des Individuums ersetzt werden.", hieß es.

 

Typisch sind z.B. die Schulerinnerungen von Sun Elk aus dem Taos Pueblo, USA, die wir nach unserem Besuch in Klemtu bei Recherchen in Internet gefunden haben: "Wir trugen die Kleidung der Weißen, aßen das Essen der Weißen, gingen zur Kirche der Weißen und sprachen die Sprache der Weißen. So begannen wir nach einiger Zeit ebenfalls zu sagen, dass die Indianer böse waren. Wir lachten über unser eigenes Volk, über seine Decken, Kochtöpfe, heiligen Gesellschaften und Tänze." Die Internats- schulen bewirkten meist, dass die hier erzogenen Indianer weder Selbstbewusstsein noch eine Identität entwickelten.

 

Auch George Robinson erzählt uns, dass er in einem solchen Internat untergebracht war und Klemtu ist eindrücklicher Beweis dafür, dass die Auslöschung der indianischen Kultur an vielen Orten fast vollständig gelungen ist. Nicht nur die Sprache und die Lieder gerieten in Klemtu in Vergessenheit, auch die Schnitzkunst und alle anderen überlieferten Handwerke. Das neue Big House musste mit Hilfe fremder Indianer gebaut und dekoriert werden, niemand wusste mehr wie das geht.

 

George ist kein professionell ausgebildeter Führer. Oft verliert er den Faden, springt er von einem Thema ins andere. Es gibt so vieles, was er Besucher wissen lassen möchte. Dadurch entsteht eine zwar etwas wirre, aber dennoch eindrucksreiche Führung. Denn wir erfahren nicht etwas über "die Indianer", sondern über das Leben dieses Menschen, der hier leibhaftig vor uns steht und seiner Kameraden. Viele leben von Sozialhilfe, laut George zwar mehr schlecht als recht, aber anscheinend bequem. Es dauert eine Weile, bis wir begreifen, dass die bis in die 50er Jahre verordnete kulturelle Auslöschung der Nation bis heute für viele Angehörige der "First Nations" verheerende Auswirkung zeigt. Wir wünschen George und seinen Kameraden, dass es ihnen gelingt Wege zu finden, wie sie ihre Traditionen mit der westlichen Kultur um sie herum in Einklang bringen können und dass sie Taten vollbringen werden, die ihnen neuen Stolz und Würde geben.

 

George hat uns gebeten ihn als Tour Guide weiter zu empfehlen. Man erreicht ihn vor Ort per Funk auf Kanal 06 unter dem Rufzeichen "Gwen Louise". Wer nach Klemtu fährt, kann außer der Führung bei George eine Tour zu den Spirit Bears machen, den lange von den Indianern vor Pelzjägern geheim gehaltenen Albino-Schwarzbären Kanadas. Man sieht vielleicht den Arzt per Wasserflugzeug einfliegen, kann die Fish Hatchery besichtigen und natürlich frischen Lachs angeln. Klemtu ist über den Marine Highway von BC Ferries auch ohne eigenes Boot gut zu erreichen.

Charmant morbides Namu

Von Klemtu aus geht es für uns über Shearwater durch die enge, hübsche Gunboat-Passage nach Namu. Namu ist einer der ehemals prosperierenden Orte entlang der Inside Passage, die seit der Aufgabe der Lachsfabriken, in denen Lachs in großem Stil eingedost wurde, dem Verfall preisgegeben sind. Nur noch die beiden "Caretaker" Pete und Rennie sowie ihre Freundin Theresa leben dauerhaft in Namu. Sie bieten Seglern und Motorbootfahrern zwei ordentliche Stege zum Festmachen an, die durch eine große Grillhütte und für die Gäste aufgestellte Tische und Bänke ungewohnten Charme erhalten. Viele skurrile Fundstücke des Ortes haben die drei Einsiedler kreativ und mit Sinn für Humor über das Gelände verteilt. Besuchern bläuen sie eindringlich ein, sich nur mit äußerster Vorsicht umzusehen. An vielen Stellen herrscht Einbruchgefahr, man muss wirklich aufpassen wo man lang läuft.

Das zentrale Floß, an dem die Stege, das Partyfloß sowie die Plattform des Hauses, in dem die drei derzeit leben, festgemacht sind, hängt stellenweise schon unter der Wasseroberfläche. Ein Loch in der Mitte wurde liebevoll als Ententeich dekoriert. Wir fragen Pete, wie lange die Plattform noch schwimmt. "Die geht niemals unter, jedenfalls nicht, solange wir hier noch leben." erwidert Pete. Sein Wort in Gottes Gehörgang... Vor der Fischfabrik liegt ein dahinsiechender Frachter, ein schwimmender Haufen Schrott. Der Steg über den kleinen Wasserarm neben der Fabrik ist komplett zusammengebrochen und gesperrt.

 

Die noch intakten Lagerhallen der Fabrik vermietet Pete als Winterlager an die Angel-Tourismus-Anbieter der Umgebung für ihre kleinen Schiffe und er erhält, so gut er kann, Stege und noch brauchbare Gebäude. Aber gegen den allgemeinen Verfall kommt er nicht an, es sieht nach einem Kampf gegen Windmühlen aus. Rennie züchtet in einem Gewächshaus Gemüse für den Eigenbedarf und begrünt die Fassaden allenthalben mit Blumen und Ranken. Im Winter, wenn es in Namu nicht viel zu tun gibt, drechseln die drei Kerzenständer, sägen Türschilder in Fischform aus und garnieren sie mit frechen Sinnsprüchen oder bauen Vogelhäuschen, die man als Andenken an Namu erwerben kann - jedenfalls wenn Rennie Lust hat den Laden zu öffnen. Namu ist ein Ort für freiheitsliebende Individualisten, die es vorziehen fernab aller Normen und Konventionen zu leben, auch wenn der Preis dafür ist, dass man sich um alles, wirklich alles, selbst kümmern muss. Uns bezaubert der morbide Charme Namus für einen kurzen Moment, aber dauerhaft in diesem unaufhaltsam vor sich hinrottenden Ort mit beschränktem Auslauf zu leben, ein Glück, dass wir das nicht müssen!

Gefürchtete Queen Charlotte Sound und eine Ansteuerung bei Nacht und Nebel

Zwischen Namu und der Einfahrt in die Queen Charlotte Strait liegt der Queen Charlotte Sound, ein 30 Meilen breiter Wasserabschnitt, der offen dem Pazifik zugewandt ist. Fegt vor der Küste Alaskas und BCs ein Sturm, wird es auch im Queen Charlotte Sound ungemütlich. Die Revierführer rufen dazu auf, die Passage der sorgfältig zu planen und nur bei gutem Wetter anzutreten. Für ein hochseegängiges Segelschiff sollte die Passage auch bei mäßig günstigen Bedingungen gefahrlos sein, aber auf ungemütliches Segeln haben wir keine Lust und wenn wir Wind auf die Nase bekämen, müssten wir sehen, wohin wir ausweichen könnten. Aus Namu kommen wir etwas später los als geplant, denn alle Bootsnachbarn kommen nochmal auf einen schnellen Schnack vorbei und wir tauschen in alle Richtungen Email-Adressen etc. aus. Etappenziel des Tages ist eigentlich nur einer der kurz vor Cape Caution gelegenen Ankerplätze. Cape Caution heißt nicht umsonst so, hier ist es, wenn Starkwind bläst, am ungemütlichsten. Da in dieser Gegend typischerweise nachmittags der Wind auffrischt, wollen wir Cape Caution am frühen Vormittag des nächsten Tages umrunden. Aber dann präsentiert sich der Queen Charlotte Sound unerwartet harmlos und wir kommen gut voran. Wer weiß, ob wir morgen auch so gutes Wetter haben, denken wir und beschließen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um Cape Caution schon heute hinter uns zu bringen. Wir rechnen uns aus, dass wir es vor Sonnenuntergang bis zum Miles Inlet, einem gut geschützten Ankerplatz schaffen müssten. Auf den letzten fünfzehn Seemeilen treffen wir allerdings auf mehr Gegenströmung als erwartet und kommen langsamer voran als angenommen. Bald wird klar, dass wir das Miles Inlet wenn überhaupt mit Tageslicht, dann nur noch mit den letzten Strahlen erreichen werden.

Normalerweise scheuen wir es, uns unbekannte Ankerplätze ohne gute Sicht anzulaufen, aber heute haben wir keine Wahl. Da des Wetter gut und die See ruhig ist, steuern wir Pagena einfach weiter dem Miles Inlet entgegen um keine wertvolle Minute zu verlieren. Kurz bevor wir unser Ziel erreichen zieht auch noch Nebel auf. Super – wir müssen uns also mit einer doppelt sichtbehinderten Ansteuerung herumschlagen. Da wir Radar, GPS und sehr gute elektronische Seekarten an Bord haben, unsere Bootsposition und die Position aller möglichen Hindernisse eigentlich immer fast metergenau kennen, sehen wir keine echte Gefahr in diesem Vorhaben. Es ist nur ungewohnt, und da das Miles Inlet an seiner schmalsten Stelle nur dreißig Meter breit ist und rechts und links von Felsen gesäumt wird, ist alleine die Vorstellung, dass wir uns ganz auf unsere Hilfsgeräte verlassen müssen, etwas schaurig. Dafür lockt im Inneren der T-förmigen Bucht ein ruhiger Ankerplatz, der uns egal was in der Nacht draußen noch passieren wird, geruhsamen Schlaf bieten wird. Als wir die Engstelle erreichen, versuchen wir mit unserem großen Scheinwerfer die Felsen rechts und links unseres Rumpfes abzuleuchten, um zu überprüfen, ob wir wirklich genau in der Mitte des Fahrwassers fahren, aber bei Nebel funktioniert das nicht besonders gut. Ganz langsam tuckern wir Meter für Meter voran, Joachim am Steuer und ich aus Ausguck vorne am Bug und arbeiten uns ohne Vorkommnisse zum Ankerplatz vor. Zum Glück liegt dort kein anderes Boot, wir können unseren Anker an der besten Stelle fallen lassen. Als wir anderntags beim Verlassen des Inlets sehen, wie eng die Einfahrt war und wie viel Kelp an der Engstelle wächst, sind wir trotz bestandener Feuertaufe sicher, dass wir Nacht- und Nebelansteuerungen auch in Zukunft soweit es geht vermeiden wollen.

Princess Louisa Inlet – ein landschaftliches Highlight im Süden der Inside Passage

Eigentlich sind wir nach vier Wochen Fahrt unter Motor das dauernde Gebrumm um uns herum gründlich satt und wollen so bald wie möglich in Vancouver einlaufen. Das Princess Louisa Inlet zu besuchen bedeutet, nochmal 45 Meilen das Jervis Inlet hoch und die dieselbe Strecke komplett zurück zu fahren. Hätte nicht Jimmy Cornell in seinem Buch "Erfahrungen dreier Weltumsegelungen" die Schönheit dieser Bucht erwähnt, hätten wir wahrscheinlich gar nicht in unseren dicken Revierführern nachgelesen und schließlich entschieden, dass wir aus gutem Grund noch zwei Tage an unsere Tour dran hängen. Das wäre allerdings äußerst bedauerlich gewesen, denn das Princess Louisa Inlet ist für uns neben Tracy Arm in Südost-Alaska das zweite große landschaftliche Highlight der Inside Passage, und wir sind froh dies zu entdecken.

 

Am Eingang in die Bucht sind zunächst die Malibu Rapids zu bewältigen, kleine enge Stromschnellen die das Princess Louisa Inlet vom Jervis Inlet trennen. Der Pass ist so schmal, dass auslaufendes Wasser hier manchmal bis zu elf Knoten schnell fließt und zwischen den Felsen tückische Wirbel- ströme erzeugt. Gefahrlos sind die Malibu Rapids nur bei "slack", also bei Stillwasser zwischen Ebbe und Flut zu durchqueren. Wir kommen eine gute Stunde zu früh an, aber der kleine Katamaran, der uns zwei Stunden zuvor überholt hat, ist weit und breit nirgends zu sehen. Ist der etwas schon rein gefahren? In den Rapids erkennen wir immer noch kleine weiße Stehwellen. Die sehen zwar nicht gefährlich aus, aber wir gehen lieber auf Nummer sicher und lassen uns noch eine Weile lang im Jervis Inlet treiben, bis die Stehwellen verschwunden sind. Direkt neben den Stromschnellen befindet sich das christliche Ferienlager "Malibu Club", dessen riesige sonnige Terrasse, an eine belebte Terrasse an einem sonnigen Tag auf einem Alpen-Plateau erinnert. Bestimmt hundert Augenpaare verfolgen schließlich unsere späte und problemlose Durchquerung des immer noch leicht strömenden Wassers zwischen den Felsen und der Strudel und winken uns zu, obwohl wir ihnen keinen spektakulären Anblick bieten.

Hinter den Malibu Rapids öffnet sich eine von ca. 200 bis 300 Meter hohen steil aufragenden Bergen gesäumte Bucht, die sich gut vier Meilen weit ins Inland zieht. Das Wasser liegt hier ganz still und wir fühlen uns in der weitläufigen Arena sonderbar geschützt und geborgen. Wahrscheinlich entstammt die andernorts zu lesende Beschreibung, dass dieser Ort an eine von der Natur geschaffene Kathedrale erinnert, genau diesem Gefühl. Am Ende der Bucht rauschen die Chatterbox Falls fünfundvierzig Meter tief die Felsen hinunter, direkt davor gibt es eine Steganlage für Boote, die hier über Nacht bleiben wollen. Ein wahrlich herrliches Fleckchen Erde, das wir uns mit ca. acht anderen Booten teilen. Wir haben das Gefühl wir wären mit Pagena in die Alpen gefahren. Es ist kaum zu glauben, dass wir uns immer noch auf Meeresspiegel-Niveau befinden. Nur kann man in der kanadischen Bergwildnis nicht so gut wandern wie in den Alpen. Es gibt einen einzigen Wanderweg, der vom Ende der Bucht zu einer direkt unterhalb eines anderen Wasserfalls gelegenen seit langem verfallenen Trapper-Hütte führt. Dieser Wanderweg wird in einem unserer Revierführer als sehr lohnenswert, aber auch sehr anstrengend beschrieben. An seinem Startpunkt warnen zwei Schilder der Parkverwaltung vor den Gefahren, die der wilde Weg birgt. Eigentlich ist es gar kein richtiger Weg. Man folgt lediglich den allen zehn bis zwanzig Metern sichtbaren orangefarbenen Fähnchen, die an Äste gebunden und an Baumstämme gepinnt sind und erklimmt über dicke Wurzeln, umgefallene Baumstämme und große Steine hinweg den steil vor einem ansteigenden Hang. Hier und da haben Wurzeln wunderbar nützliche Treppen gebildet, die den Aufstieg erleichtern. Dennoch, dieser Weg ist nur was für Unerschrockene mit guter Kondition, denen es nichts ausmacht, sich auf dem Abstieg auch mal sicherheitshalber auf den Hosenboden zu setzen. Joachim hat keine Lust auf dieses Programm, aber ich habe Bewegungsdrang, mich reizt die Wanderung ungemein. Ich breche alleine auf, treffe unterwegs aber zwei andere Seglerinnen, deren Männer es ebenfalls vorziehen den sonnigen Nachmittag an Bord zu verbringen. Joachim nutzt die Stunden meiner Abwesenheit nicht mal zum Faulenzen sondern nimmt sich einige schon lange anstehende Bastel-Arbeiten am Boot vor. Jedenfalls erzählt er mir das am Abend, als ich verschwitzt und verschmutzt, aber glücklich wieder auf dem Steg auftauche.

 

Am nächsten Morgen verlassen wir unseren ruhigen Liegeplatz am Ende des beindruckenden Princess Louisa Inlets in Stockfinsternis, damit wir mit den ersten Lichtstrahlen, noch vor Sonnenaufgang, durch die Malibu Rapids zurück flutschen können, da an diesem Tag schon um fünf Uhr morgens Stillwasser herrscht. Der frühe Aufbruch macht es möglich, dass wir an einem einzigen Tag die siebzig Meilen bis nach Gibsons zurück zu legen, wo wir auf Kauai gewonnen Freunden einen Besuch abstatten. Vom Häuschen am Wasser mit traumhaftem Blick auf Keats Island im Vordergrund und den Mount Baker im Hintergrund, sowie eigener Boje vor dem Haus, sind wir schwer beeindruckt. Peter und Christy machen uns sogar die Freude, ihr Dingi aus dem Hafen zu holen um uns damit von der Boje abzuholen und die paar Meter ans Ufer überzusetzen, von wo aus eine Treppe hoch zu ihrer Terrasse führt. Da die beiden selbst lange Strecken segeln, wissen sie genau womit sie uns die größte Freude machen können: mit einer langen, heißen, zeitlich unbegrenzten Dusche! Begeistert erzählen wir ihnen von unseren Erlebnissen, seit sich unsere Wege auf Kauai getrennt haben, denn Peter war derjenige, der sich am meisten dafür ins Zeug gelegt hat, dass wir nach Südost-Alaska segeln.

Gutes Karma

Von Gibsons aus ist es nur noch Katzensprung nach Vancouver. Als erstes wollen wir dort Verwandte besuchen, die in einem schmucken Vorort Vancouvers wohnt. Deep Cove liegt am Indian Arm, einem Wasserarm im Norden des Stadtgebiets. Es ist ein herrlicher Spätsommertag als wir uns nach einem gemütlichen Frühstück bei unseren Freunden auf den Weg machen, ein Bilderbuchtag, der alle Bootsbesitzer nochmal aufs Wasser lockt. Vor der Lions Gate Brücke ist der Teufel los. Unzählige kleine Motorboote versuchen hier Lachse zu angeln, dazwischen ein paar Segel- boote und die Möglichkeit, dass jederzeit ein großer Frachter aus dem Hafen auslaufen kann, der durch dasselbe Nadelöhr wie wir muss. Als wir auf die Brücke zusteuern hören wir auf Kanal 16 einen Ruf der Küstenwache, die durchgibt, dass ein Segelboot Motorprobleme hat und Abschlepphilfe benötigt. Wir entdecken das Boot ganz in unserer Nähe. Der Hafen, in den sie geschleppt werden möchten, liegt auf unserer Strecke. Kurzentschlossen bieten wir Hilfe an. Die indisch aussehende fünfköpfige Crew, die dicht gedrängt im kleinen Cockpit des ca. 25 Fuß kurzen Schiff sitzt, ist offensichtlich froh, so schnell aus der vermeintlichen Seenot gerettet zu werden. "Können wir Euch Geld geben?", wollen sie wissen, als wir sie eine halbe Stunde später an den Steg ihres Heimathafens bugsiert haben. "Natürlich nicht! Segler helfen Seglern, das ist doch normal" lehnen wir ab. "Wow, Danke! Ihr werdet gutes Karma für Eure weitere Reise haben." bedankt sich der Skipper. Das finden wir gut, denn von gutem Karma begleitet zu werden, kann nie schaden.

Zu guter Letzt: Pittoreskes Victoria

Victoria ist verglichen mit Vancouver eher eine verträumte Kleinstadt, ob- wohl es die Hauptstadt British Columbias ist. Victorias Zentrum schmiegt sich um den Inner Harbour, wo sich auch die beiden Hauptattraktionen Victorias, das British Columbia Parliament Building und das Fairmont Empress Hotel befinden. Die Steganlagen unmittelbar vor dem Hotel, sind die schönsten und die am besten gelegenen von ganz Victoria und gemäß unserem Revierführer nicht teurer als diejenigen in den einige hundert Meter entfernt liegenden Marinas. Erstaunlicherweise ist der in den Sommermonaten sehr beliebte Hafen Anfang Oktober fast leer und wir können problemlos einen Liegeplatz für Pagena bekommen. Im Büro des Hafenmeisters erfahren wir allerdings, dass unserer Revierführer, zumindest was die Preise betrifft, nicht mehr ganz auf dem neuesten Stand ist und verlegen Pagena doch rüber zu den Wharf Street Floats.

 

Susanne hat ausnahmsweise mal keine Lust auf Sightseeing, also ziehe ich alleine los, um mir Victoria anzuschauen. Die Stadt wurde 1843 von der Hudson's Bay Trading Company in Form eines Forts gegründet und hat sich in den darauf folgenden Jahren rasch vergrößert. Bereits 1868 wurde Victoria die Hauptstadt des noch jungen Bundesstaates British Columbia. Schon dreißig Jahre später wurden das eindrucksvolle Parlamentsgebäude fertig gestellt, was ich angesichts der Tatsache, dass hier etwa fünfzig Jahre zuvor nicht viel mehr als grüne Wälder waren, recht bemerkenswert finde. Direkt neben dem Parlamentsgebäude liegt das luxuriöse und im Stil eines Schlosses errichtete Fairmont Empress Hotel, das 1908 von der Eisenbahngesellschaft, der Canadian Pacific Railway, gebaut wurde.

Als wir auf den Deep Cove Yacht Club zusteuern, steht Klaus schon winkend am Steg. "Woher weiß er, wann wir ankommen, wir haben doch noch gar nicht angerufen", wundern wir uns. "Ich hab Euch vom Wohnzimmerfenster aus vorbeifahren sehen", lacht Klaus. Die folgenden vier Tage genießen wir es mal wieder in einem richtigen Bett zu schlafen und mit Inges Kochkünsten verwöhnt zu werden. Tagsüber machen wir kleine Ausflüge in die Umgebung, abends zeigen wir stundenlang Fotos und erzählen. Es ist schon viele Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, und dass wir nun auf eigenem Bug hier angekommen sind, ist schon etwas Besonderes.

 

Dann bekommen wir Besuch von einer Freundin aus Deutschland, die als Stewardess einen Flug nach Vancouver als Arbeitseinsatz bekommen hat. In den zwei Tagen ihres "Layovers", ihrer Erholungszeit zwischen den zwei anstrengenden Flügen, verlegen wir Pagena von Deep Cove nach False Creek im Zentrum Vancouvers. Direkt hinter dem touristisch-quirligen Granville Island dürfen Besucher vierzehn Tage lang kostenlos ankern. Schnell haben wir herausgefunden, wo die beiden Stellen sind, wo wir das Dingi lassen dürfen, wenn wir an Land gehen. Mit Anja zusammen gehen wir ins Vancouver Aquarium, das zurzeit viel Werbung für seinen neuen 4D-Film "The great Salmon Run" macht. Gerne würden wir noch mehr über den Zug der Lachse erfahren und Szenen, die wir in den vergangenen Wochen zwar live, aber doch wenig genau gesehen haben, noch einmal in Slow-Motion vorgeführt und erklärt bekommen. Leider bleibt der Film weit hinter unsern Erwartungen zurück, und auf wackelnde Sitze, kleine Wasserspritzer und Seifenblasen im Kinoraum – die vierte Dimension der Vorführung – hätten wir getrost verzichten können. Aber die Shows der Beluga Wale und der Delphine des Aquariums gefallen uns.

 

Schließlich erobert ein Seeotter unsere Herzen. Ganz ohne Trainer und ohne Belohnungs-Fische macht er in seinem Becken seine eigene kleine Show. Wie alle Seeotter schwimmt er gerne auf dem Rücken. Er besitzt eine Frisbee-Scheibe, die er sich zunächst auf den Bauch legt. "Seht her, dies ist meine Frisbee-Scheibe. Die kann ich mir auf den Bauch legen und damit rumschwimmen, ohne sie verlieren", scheint er zu sagen. "Ich kann sie mir aber auch über den Kopf ziehen. Dann sehe ich zwar nichts mehr, aber ich kann trotzdem noch prima rückwärts auf dem Rücken schwimmen – seht her." "Jetzt zeige ich Euch meinen besten Trick, ich kann nämlich mit der Frisbee-Scheibe auch Purzelbäume rückwärts und Schrauben drehen." Behände lässt er dabei die Plastik-Scheibe um seinen Körper gleiten und versichert sich mit einem schnellen Blick aus seinen dunklen Knopfaugen, ob ihm auch genügend Bewunderer zuschauen. Gegenüber seinen in Freiheit lebenden Artgenossen kann er einem in seinem kleinen Becken zwar leidtun, aber dieser Seeotter wirkt nicht unglücklich und ist unser Highlight des Tages.

 

Sehr unglücklich dagegen wirken die vielen Bettler, die wir in den Straßen Vancouvers sehen. Vor allem Touristen betteln sie ziemlich herausfordernd an. Touristen haben ja offensichtlich Geld, die sollen ihnen gefälligst etwas abgeben. In Gastown, dem kleinen, sehr touristischen Stadtviertel, das für Vancouver dasselbe ist wie Alt-Sachsenhausen für Frankfurt und das Quartier Latin für Paris, werden wir von einem Penner lautstark beschimpft, als wir es ablehnen ihm etwas zu geben. Solche Szenen habe ich von früheren Besuchen in Vancouver nicht in Erinnerung, und so aggressiv sind wir auch in anderen Großstädten schon lange nicht mehr angebettelt worden. Vancouver gilt als Stadt, in der zu leben sehr teuer geworden ist. Offensichtlich gibt es eine wachsende Anzahl von Menschen, die, aus welchem Grund auch immer, Job und Unterkunft verloren haben, nun versuchen, ihr Leben auf der Straße zu fristen und dabei in ziemliche Verzweiflung geraten. Vancouver ist nach wie vor eine Großstadt mit hohem Freizeitwert, denn Wasser und Berge, die keinen Wunsch offen lassen, liegen unmittelbar vor der Haustür. Wir können nur hoffen, dass es Vancouver schafft, sich eine attraktive Innenstadt zu erhalten, in der man sich weiterhin ungezwungen bewegen kann.

Direkt hinter dem Fairmont Empress Hotel beginnt Downtown Victoria, die Innenstadt mit ihren Pubs, Restaurants, Geschäften, Einkaufszentrum und Kirchen. Beim Durchschlendern muss ich schmunzeln, als ich plötzlich vor einem altehrwürdigen Bankge- bäude stehe, in dem sich heute ein Scottish Pub befindet. Gab es da etwa schon mal eine Bankenkrise? Wenn ja, wurde die jedenfalls clever gelöst. Kurz drauf stehe ich vor dem Tor der Harmonie, dem Eingang zu Chinatown. Für den aus Europa stammenden Teil der Einwohner von Victoria war Chinatown die "verbotene Stadt". Hier gab es Glückspiel und Opiumhöhlen. Das Chinesenviertel war gewissermaßen eine nahezu unabhängige Stadt in der Stadt, Chinatown hatte seine eigenen Gesetze und Regeln. Heute ist Victorias Chinatown ein quirliges Stadtviertel mit Restaurants, Lebensmittelläden, jeder Menge Ateliers und natürlich Souvenir-Läden. Einige Häuser haben Pagodendächer, vielerorts hängen rote Papierlaternen und man findet vergoldete Drachenskulpturen. Die meisten Reklametafeln und -schilder sind zweisprachig, chinesisch und englisch gehalten, manchmal fehlt jedoch auch die englische Version, dann hilft nur ein Blick in den Laden um herauszufinden, ob es sich um einen Friseur, ein Restaurant oder eine Apotheke handelt.

 

Schließlich lande ich im Beacon Hill Park, der ebenfalls schon Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt wurde. In der großzügigen Parkanlage gibt es neben Teichen, Brücken, Pavillons und Sportplätzen den mit fast 39 Metern Höhe höchsten Totem-Pfahl der Welt zu bewundern. Rund um den Bacon Hill Park entstanden die ersten Wohngebiete Victorias, der heutige Stadtteil James Bay. Viele der hier stehenden Häuser sind im schmucken Viktorianischen Stil erbaut. Der Charme der Stadt besteht in der reizvollen Komposition aus britisch-europäischer Basis-Kultur, die durch indianische und asiatische Einflüsse besondere Würze erhält und sich im Süden Vancouver Islands in außergewöhnlich mildem Klima präsentiert.

In Victoria endet unser Reiseabschnitt durch die Inside Passage. Von Sitka, unserem ersten Hafen in Südost-Alaska aus, bis nach Victoria haben wir in 45 Tagen ca. 2.270 km auf Wasserstraßen durch eine spektakuläre Szenerie aus Wasser, Wäldern und Bergen zurückgelegt, haben zahllose Wasserfälle und Geländeformationen bewundert und eine Reihe beeindruckender Begegnungen mit Walen, Bären und Lachsen gehabt. Im Norden Südost-Alaskas mussten wir aufpassen, dass wir keinen Eisberg rammen, in British Columbias Gewässern mussten wir zahlreiche im Wasser treibende massive Holzstämme umschiffen. Den einen oder anderen, der beim besten Willen nicht sichtbar war, z.B. bei leicht bewegter See und vielen Lichtspiegelungen und Reflexen im Wasser, haben wir touchiert. 246 Stunden lang konnten wir nicht segeln, sondern mussten uns unter Motor fortbewegen wofür wir 529 Liter Diesel brauchten. Pro Betriebsstunde sind das 50 % mehr als gewöhnlich, irgend- etwas ist mit dem Motor immer noch nicht ganz in Ordnung. Wenn wir San Francisco erreichen, unser nächstes Reiseziel, müssen wir dem mal auf die Spur gehen. Eigentlich wollten wir ja noch einige Tage lang wenigstens ein paar der die zwischen Vancouver und Victoria gelegenen Gulf Islands besuchen, die sehr hübsch sein sollen und in denen alleine man Wochen verbringen könnte. Doch wir haben nun schon so lange gutes Wetter, das wird uns langsam unheimlich. Für die Passage nach San Francisco runter brauchen wir unbedingt gutes Wetter, wir sollten unser Glück nicht ausreizen. Daher beschließen wir kurzerhand den Gulf Islands den Rücken zu kehren und so schnell wie möglich wieder nach USA einzureisen.

 

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