23. Sept. – 21. Okt. 2013, Vanuatu - Teil 2: Tanna

Tanna, Port Resolution – ein Must-see!

Die 140 Meilen südlich von Efate gelegene Insel Tanna lockt mit drei Attraktionen: Zum Ersten gibt es hier den Yasur, einen aktiven Vulkan, an dessen Kraterrand man den fortwährenden Eruptionen zusehen kann, zum Zweiten leben auf Tanna viele Anhänger des "John Frum Cargo Kultes" und man kann an der wöchentlichen Versammlung dieser schrägen Gemeinschaft teilnehmen und zum Dritten gibt es auf Tanna noch einige sogenannte "Kastom Villages" - Traditionsdörfer, in denen die Bewohner moderne Lebensformen bewusst ablehnen und noch wie vor Jahrhunderten leben – mit Baströcken und Penisköchern bekleidet. Für uns wird Tanna die einzige Chance sein, diese Dinge zu erleben, wir wollen da unbedingt hin. Der Ankerplatz in Port Resolution ist nicht bei allen Windrichtungen sicher, aber für die nächsten Tage sieht es gut aus. Die kleine flache Bucht ist nach dem Schiff von Captain Cook benannt, der im Jahre 1774 hier ankerte. Cook begegnet uns unterbrochen auf unserer Reise durch den Pazifik. Überall wo wir hinkommen war er im 18. Jahrhundert auch schon. Zu Zeiten, als es noch keine Seekarten gab, kein GPS, keine Wettervorhersage und keine motorisieren Schiffe. Aber der Yasur hat damals schon dieselben Rauchsäulen in den Himmel geschickt wie heute. Seinetwegen kam auch Cook nach Tanna. An der westlichen Uferböschung von Port Resolution sehen wir in Wassernähe Dampfsäulen aufsteigen und kurzzeitig Glut aufleuchten. Kurze Zeit später erfahren wir von Bootsnachbarn, dass diese im kochend heißen Wasser, dass dort in die Bucht fließt, Lobster gegart haben!

 

Port Resolution setzt sich aus vier Dörfern zusammen. Das Dorf unten am Wasser, wo sich auch die englischsprachige Schule befindet, heißt Ireupuow, auch wenn meist nur von Port Resolution die Rede ist. Das etwa 1,5 km entfernt liegende Dorf Iakupen gehört auch zur Gemeinde Port Resolution. Port Resolution bzw. eigentlich Ireupuow besitzt einen Yachtclub und einer der beiden Leiter, Stanley, kommt kurz nachdem wir geankert haben, mit seinem Auslegerkanu zu uns rausgepaddelt. Stanley ist für die Ausflugs-Organisation der Yachties zuständig. Etwas später besuchen wir ihn an Land, um unsere Vorhaben zu besprechen. Das wird mit uns etwas kompliziert, denn wir haben nur wenig Bargeld nach Tanna mitgebracht. Nach den erfolgreichen Tauschhandeln in Vila haben wir uns gesagt, dass wir auch für die Bewohner Port Resolutions noch bergeweise attraktive Sachen zum Tauschen haben und dass wir versuchen wollen, im Gegenzug Ausflüge zu bekommen.

 

Tannas Attraktionen sind einzigartig, daher ist Tanna ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen, die den Hauptteil des Urlaubs auf Efate oder auf Espiritu Santo verbringen, wo es kilometerweise feinsten Sandstrand gibt. Sie buchen ein- oder zweitägige Ausflüge nach Tanna und bezahlen dafür horrende Preise. Im ursprünglichen Tanna sind die Bewohner also den Umgang mit Touristen gewohnt, deren Taschen prall gefüllt sind und die Reiseveranstalter haben exorbitante Taxi- und Eintrittspreise als gegeben akzeptiert. Wir vermuten jedoch, dass man auf Tanna nur wenig kaufen kann, weshalb Tauschen für die Leute sicherlich das interessantere Geschäft ist. Insbesondere im abgelegenen Port Resolution, denn alle Geschäfte befinden sich in Tannas Hauptort Lenakel, eine dreistündige Autofahrt von Port Resolution entfernt.

 

Als wir zu Stanley gehen, erzählen wir ihm also, dass wir nur Geld für die Gebühren haben, die das Vulkan-Komitee erhebt, aber alle weiteren Leistungen mit Waren begleichen müssen und bitten ihn um Unterstützung. Wir zeigen ihm, was wir anzubieten haben, er soll sich von der Qualität unseres Angebots überzeugen: Original verpackte Stirnlampen, Batterien und Angelzubehör, ein gut bestücktes Taschenmesser, einwandfreie dicke Seile und gebrauchte Bekleidung. Er nickt zustimmen, all diese Dinge werden gebraucht und sind in Port Resolution schwer zu bekommen. Er selbst verliebt sich augenblicklich in eine LED-Taschenlampe, deren Strom man mit einer Handkurbel erzeugen kann, ein Geschenk unserer Freunde von Marblu. Ob wir die Taxifahrt zum Yasur durch Tauschware erwerben können, muss er mit anderen Dorfbewohnern besprechen. Das Taxi gehört dem Port Resolution Yacht Club, der wiederum der Dorfgemeinschaft von Ireupuow gehört. Außer dem Auto hat der Yacht Club eine Versammlungshütte, in der ein großer Tisch und viele durchgesessene Sofas stehen, sowie ein paar Kabinen mit toller Aussicht, die an Besucher vermietet werden. Stanley selbst wohnt im etwa 300 m entfernten Dorfteil in einer Strohhütte. Das ganze Dorf besteht aus Strohhütten. Es gibt Schlafhütten und Kochhütten, ohne Elektrizität und ohne fließend Wasser, eine uns fast unbekannte Lebenswelt. Nachmittags erhalten wir die Nachricht, dass wir die Taxifahrt zum Vulkan gegen Diesel-Kraftstoff bekommen. Wir stimmen zu ohne die Menge zu kennen, die erwartet wird. Der übliche Fahrtpreis in Diesel dürfte etwa 20 Liter sein. So viel können wir abgeben, machen wir!

Yasur - der Erde ins offene Herz geschaut

Um 15:30 h werden wir am Yacht Club abgeholt. Der Fahrer, Rosen, gibt sich einsilbig. Wir sind heute die einzigen Gäste und haben das Fahrzeug für uns alleine. Rosens kleine Nichte begleitet ihren Onkel, sie war noch nie auf dem Vulkan, obwohl sie ihn fast jede Nacht grummeln hört. Die Fahrt über holprige Pisten dauert eine Stunde. Am Tor am Fuß des Vulkans, wo die Eintrittsgebühr kassiert wird, hören wir, dass Aktivitätsstufe zwei herrscht. Undeutlich habe ich auch ein gemurmeltes "three" vernommen. Ab Stufe drei gelten Einschränkungen für die Besuchszonen. Auf einem großen Aschefeld stellt Rosen das Auto ab. Am Rand des Parkplatzes steht ein Briefkasten. Mit Briefmarken-Editionen für Philatelisten macht Vanuatu gutes Geschäft und so gibt es eben auch Briefkästen an ungewöhnlichen Orten. (Auf Hideaway Island in Mele Bay auf Efate z.B. gibt es ein Unterwasser-Postamt, das 1 Stunde pro Tag von einem Taucher besetzt wird.) Die Ni-Vanuatu haben Phantasie und sind geschäftstüchtig. Besuchern bieten sie alle erdenklichen Erlebnisse. Was wir allerdings vom Kraterrand auf dem Yasur aus erleben, ist kaum vorstellbar, wenn man es nicht mit eigenen Augen erlebt.

 

Überall auf der Welt gelten aktive Vulkane als gefährliche Zone, fast überall kommen nur Vulkanologen nahe an die Eruptionszonen dran. Auf Hawaii konnte man Helikoptertouren buchen und die glühende Lava aus der Luft sehen, für sehr viel Geld. Blubbernder Schwefelschlamm, in der Ferne aufsteigende Rauchsäulen oder Feuerspielchen mit der Hitze des Vulkans sind das Höchste, was normal betuchte Vulkan-Touristen in der Regel erleben. Hier auf Tanna stehen wir allerdings bei Sonnenuntergang mit etwa 30 weiteren Besuchern am Rande zweier Krater, in denen zu unseren Füßen flüssige Lava brodelt. Alle paar Minuten produziert der Yasur zuerst eine Druckwelle, die uns die Hosenbeine flattern lässt, dann folgt ein ohrenbetäubendes Donnern, dann fliegen im linken Krater Lavabrocken in die Luft. Im rechten Krater scheint die Erde Luft zu holen, hier sehen wir regelmäßig Rauch aus der Kraterwand in die Tiefe ziehen. Zwischen zwei Eruptionen des rechten Kraters steigen unterschiedliche gefärbte Rauch- und Aschewolken in die Luft. Während die Sonne noch am Himmel steht, sieht man die Glut noch nicht, die Lavabrocken sind grau. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist, wird das Spektakel beispiellos. Wie Feuerwerksköper fliegt rotglühende Lava in die Luft, manchmal hoch über unsere Köpfe. Es weht nur schwacher Wind, daher fallen die Brocken, bombs genannt, im Bogen zurück in die Caldera. Eine Bombe landet nur etwa 100 Meter von unserem Standort entfernt. "Lauft keinesfalls weg wenn Ihr seht, dass eine Bombe in Eure Richtung fliegt, lasst sie nicht aus den Augen!", wurden wir vorher von Rosen unterwiesen. "Weglaufen kann gefährlich sein, weil ihr dann den Landeort weniger gut einschätzen könnt. Bleibt stehen und verfolgt die Flugbahn aufmerksam, um schließlich in die richtige Richtung auszuweichen." Beim Gedanken daran, dass dieser Ratschlag mehr als die obligatorische Warnung vor einem hypothetischen Ereignis ist, wird uns etwas mulmig. Andererseits ist das sich vor uns abspielende Naturschauspiel so beeindruckend, dass die Faszination überwiegt. Wir schauen hier auf dem Yasur, einem gut 300 Meter hohen Schichtvulkan, der Erde ins offene Herz und sehen es schlagen. Obwohl es dort oben kalt ist und wir schon massig Fotos und Videos gemacht haben, fällt es uns schwer, uns anderthalb Stunden später vom Vulkan loszureißen. Wir sind die letzten, die den Yasur verlassen. Was für ein Erlebnis, einmalig!

 

Am nächsten Tag überzieht eine satte schwarze Schicht Pagenas gesamtes Deck. Alles schwarz, egal wohin wir treten. Scharfkantige Lavaasche, grässlich! Wir streiten uns, wo wir anfangen sollen die Asche zu beseitigen. Joachim will zuerst das Cockpit sauber machen, ich glaube, dass wir, um ein sauberes Cockpit zu behalten, zuerst die Asche vom Großbaum, von der Sprayhood und vom Bimini beseitigen müssen. Nach wie vor herrschen umlaufende Winde, so dass wir jederzeit nochmal einen Asche-Regen abbekommen können. Wenn wir Pech haben ist der Putzerfolg, egal wo wir anfangen, nur von kurzer Dauer. Ich beginne von oben, Joachim im Cockpit, wir kommen uns in die Quere, motzen uns an, erreichen aber dennoch ein Stadium, mit dem wir beide leben können. Dann endlich können wir mit dem Dingi über an Land übersetzen. Diesmal laufen wir an Stanleys Dorf vorbei über den großen Rasenplatz zum nächsten Dorfteil. Dort begegnet uns Maui.

Tauschhandel mit Maui

Maui möchte uns kleine geflochtene Basttaschen verkaufen. Wir hätten allerdings lieber eine Stohmatte. Nach einem kurzen Gespräch mit den Nachbarinnen zerrt Maui eine aus einer der Hütten hervor. Aber diese Matte ist schon sehr alt und abgenutzt, sie gefällt uns nicht. Jetzt ist der Zeitpunkt, wo wir auch Maui in die Tauschvorhaben einweihen müssen. Maui findet das sehr gut, wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag. Bis dahin wird sie sehen, ob sie eine schönere Matte auftreiben kann und wir werden unsere Tauschangebote mitbringen. Maui spricht Französisch aber sie nuschelt so sehr, dass ich sie oft kaum verstehe. In diesem Dorfteil sprechen die meisten Leute Französisch. Je nachdem, auf welche Schule man geschickt wurde, die Englische oder die Französische, bestimmt sich, welche Fremdsprache man beherrscht. Maui hat aber eine so freundliche, herzliche Ausstrahlung, dass ich sie augenblicklich mag und dass wir uns immer irgendwie mit Gebärden verständigen können, wenn es mit der Sprache nicht ganz klappt.

 

Am Nachmittag kommt Stanley raus zu Pagena. Er hat uns zuvor schon Obst und Gemüse zum Tausch angeboten. Doch wir haben noch so viel vom Markt aus Vila, wir brauchen keine Papayas und Gurken. Daher haben Stanley, seine Frau und seine Schwester überlegt, was sie uns sonst anbieten könnten, denn sie hätten ja schon gerne einige unserer Schätze. "Wir möchten Euch zu einem traditionellen Erdofen-Essen bei uns zuhause einladen" offeriert Stanley. "Wir haben keine Ahnung, ob ihr das mögt oder nicht, aber zumindest findet ihr heraus, was und wie wir essen, alles wird ganz authentisch sein." Stanley ist sichtlich stolz auf diese Idee und ja, sie hat Charme. Wir stimmen zu und verabreden uns für den nächsten Mittag. Seinen akkubetriebenen DVD-Player können wir ihm auch wieder aufladen, die beiden kleinen Töchter können jetzt wieder König der Löwen gucken. Bezüglich unseres Rot-Kreuz-Paketes gibt es immer noch nichts Neues. Wir können den Empfänger auf Tanna nicht erreichen und Stanley auch nicht. Allerdings murmelt er meist in seinen Bart, dass das Handy gerade keinen Strom hat und er es erst wieder laden muss. Dafür hat er ein winziges Solarpanel.

 

Aus dem Erdofen kommen, ähnlich wie auf Manono, diverse Gemüsebrocken und kleine Stücke Schweinefleisch zum Vorschein. Außerdem gibt es Laplap, ein zu einem dicken weichen Fladen gebackener Maniokbrei, eine vanuatische Spezialität. Stanleys Schwester holt das Gemüse mit der Hand und einer kleinen Gabel aus dem Feuer. Das Gemüse wandert in eine große Plastikwanne, das Fleisch in eine andere. Zum Schluss wird etwas Saft mit dem Löffel von den auf dem Boden liegenden Blättern geschöpft. Die ganze Arbeit wird gebückt verrichtet, denn der Erdofen befindet sich, wie der Name schon sagt, auf der Erde. Dann wird alles auf großen Platten angerichtet und serviert. Gegessen wird mit einer Gabel von Plastiktellern. Das Gemüse ist schmackhaft, das Laplap schmeckt deutlich besser als auf dem Markt in Vila, aber das Fleisch ist grausig. Die Mühe Knochen auszubeinen macht sich hier keiner. Das Tier wird einfach mitsamt Knochen kleingehackt. Wenn man die Knochen- und Fettstücke abmacht, bleibt kaum essbares Fleisch übrig. Aber ja, authentisch ist das Essen wohl.

 

Zur Feier des Tages haben wir unsere letzte Flasche alkoholfreien Apfel-Cider als ausgefallenes Getränk mitgebracht. Wir sitzen alle zusammen auf ein paar Strohmatten zwischen den Hütten um die Platten herum gruppiert. Von Stanleys Familie nehmen etwa sechs Erwachsene sowie einige Kleinkinder teil. Als Nachtisch für alle gibt es, in Spalten geschnitten, unsere zwei riesigen Grapefruits aus Vila. Alle, einschließlich der Kinder essen gierig die leckeren saftigen Früchte. Nachdem wir unsere Geschenke übergeben haben, holen wir ein Buch aus der Tasche, anhand dessen Fotos wir Europas vier Jahreszeiten gut erklären können. Es erscheint uns wichtig, dass die Leute hier verstehen lernen, aus welchem Kulturkreis wir kommen und dass es aufgrund der Effekte der vier Jahreszeiten für uns schwer ist, gutes Essen nicht zu verwerten. Man muss das wissen, um verstehen zu können, weshalb wir die angebotenen Gurken und Papayas abgelehnt haben. Nach hiesigem Verhaltens-Kodex war es ungebührlich, ein angebotenes Geschenk abzulehnen. Wir sind erstaunt, mit welch großem Interesse sich alle Erwachsenen die Fotos anschauen und die Erklärungen dazu anhören. Es scheint sie wirklich zu interessieren. Insbesondere Stanleys Schwester, eine Kindergärtnerin, schüttelt alle paar Minuten den Kopf und stößt dazu Laute aus, die Verblüffung ausdrücken: ein langgezogenes Pfeifen mit sinkendem Ton, dem ein schnelles geschnalztes ts-ts-ts-ts folgt. Z.B. wenn wir eine tief verschneite Landschaft zeigen, in der man offensichtlich nichts ernten kann und wir erklären, wie lange es braucht, bis die Menschen in Europa wieder frisches Obst und Gemüse ernten können. Stanley blättert anschließend das ganze Buch durch, ein Sachbuch mit vielen Bildern über das Wetter und Wetterphänomene im Allgemeinen. Der Text ist auf Deutsch, daher macht es keinen Sinn es ihm zu schenken. Aber bei der nächsten Reise hätten wir sicher ein entsprechendes Buch in Englisch dabei, das wir hergeben würden. Es ist schön zu erleben, wie wissbegierig die Leute hier sind.

 

Dann eilen wir rüber zu Maui. Sie hat eine bessere Schilfmatte aufgetrieben, die wir im Tausch erwerben können. Die Matte ist nicht von ihr, daher ist ihr sehr daran gelegen, dass wir außer der Matte auch einen ihrer Taschen mitnehmen. Unsere vorgepackten Tausch-Pakete enthalten gebrauchte T-Shirts von uns, neue Zahnbürsten und Zahnpasta, ein Paar wenig getragene Flip-Flops, ein paar Stücke Kinderbekleidung, etwas Nähzubehör und eine Schere. Maui will von mir genau wissen, was wir für die Matte geben und was für ihr Täschchen. Das zu entscheiden fällt mir sehr schwer, ich weiß ja nicht, wer was gebrauchen kann und wie der Wert der Dinge eingeschätzt wird. Ich erkundige mich vorsichtig, ob der Tauschhandel als gleichwertig empfunden wird und Maui versichert, dass wir sehr großzügig seien. Dann ist es ja gut, genau das wollen wir ja. Wieder macht das Tauschen hier Spaß. Schließlich deutet Maui auf eine Familie, die ein kleines Baby hat, für das sie angeblich nichts zum Anziehen haben und fragt, ob wir diese Familie auch unterstützen können. Wir versprechen an Bord zu schauen, ob wir noch Babykleidung haben.

Fußball-Turnier in White Sands

Dann ist Tafea-Day, ein Feiertag für die fünf südlichen Inseln Vanuatus (Tafea steht für Tanna, Aniwa, Futuna, Erromango und Aneityum). In White Sands, einem Ort an der Ostküste Tannas, treten vier Fußball-Mannschaften gegeneinander an. Willy, der Trainer des Teams aus Port Resolution, hat angeboten, dass wir mitgehen können. Die Spieler laufen zu Fuß nach White Sands, was uns eine geführte dreistündige Wanderung beschert, auf der wir bestimmt Teile der Insel sehen, die uns sonst verborgen bleiben würden. Um 8 Uhr geht es los. Die Männer gehen den kürzesten Weg, der am Strand von Port Resolution entlang zu einem Dorf hoch führt, dann weiter einen Bergrücken hoch, dann runter an einen Fluss, der heißes Wasser führt (man kann gerade so durchlaufen), den nächsten Bergrücken hoch, auf der Höhe vorbei an großen Gärten und kleinen Feldern nach Sulphur Bay auf dem Rücken des Vulkans und schließlich rüber nach White Sands. Es wird zügig gegangen. Für uns ist das Tempo in Ordnung, aber wir müssen nach dieser Wanderung auch kein Fußballturnier bestreiten. Viele der Spieler gehen zudem barfuss. Das muss man sich in Deutschland mal vorstellen.

 

Willy fragt, ob wir von jedem Mannschaftsmitglied ein Portraitfoto machen und ihnen diese in Passfotoformat dreifach ausdrucken können. Sie brauchen die Bilder für Spielerpässe, da sie Liga-Spieler sind und ihre Pässe erneuert werden müssen. Um Passfotos zu bekommen müssten sie sonst alle nach Lenakel fahren, die Fahrt kostet einfach 500 Vatu (für Einheimische, für Touristen ist es erheblich mehr) und jedes einzelne Foto kostet noch mal 700 Vatu. Bei 24 Spielern summieren sich die Kosten also auf fast 75.000 Vatu, enorm viel Geld für hiesige Verhältnisse. Wir haben eine gute Kamera, Fotopapier und einen Fotodrucker an Bord – klar kein Problem, machen wir. Wir hoffen nur, dass die Tinte für so viele Fotos reicht. Bis zum ersten Dorf unterhält Willy sich mit uns, dann biegt er ab um einen kurzen Familienbesuch zu machen. Fast alle haben Familie in mindestens einem der Dörfer, durch die wir laufen Willy ist ein guter Gesprächspartner, den wir alles Mögliche fragen können, denn er ist Lehrer an der Grundschule. Er übergibt unsere Betreuung an einen jungen Spieler. Der hat ein Messer dabei, denn man weiß ja nie, wofür man unterwegs ein Messer braucht. Immer mal wieder haut er einen kleinen Schnitzer in einen Ast oder eine Wurzel. Das haben wir oft beobachtet. Muss so was wie natürliches Graffiti oder das bei Tieren üblich Markieren von Revieren. Dass es Vorteile hat ein Messer oder eine Machete dabei zu haben, kapieren wir spätestens, als ein Spieler auf eine Palme klettert und zwei Trinkkokosnüsse für uns schlägt - echt nett. Selbst trinken die Spieler auf dem Weg kaum was.

 

Als wir in White Sands ankommen herrscht dort Volksfest-Stimmung. Es sind bestimmt 1.000 Menschen da, Jung und Alt. Auf einer kleinen Bühne steht ein Politiker, ein Minister aus Vila und erklärt den Leuten in Bislama die Lokalpolitik. Wir verstehen nicht alles, aber er baut genügend englische Begriffe ein, dass wir den Sinnzusammenhang trotzdem mitbekommen. Posten für Posten führt er auf, wofür die Regierung Geld ausgibt, z.B. für Schulen. Er betont, wie wichtig es ist, dass die Kinder Bildung bekommen. Von einem internationalen Flughafen und Tourismus ist die Rede. Uns beeindruckt diese Ansprache, denn dass ein Volksvertreter dem Volk so detailliert die Regierungsarbeit erklärt, haben wir noch nirgends erlebt. Als wir allerdings später Leute aus Port Resolution zu dieser Veranstaltung befragen, hören wir, dass der Minister sehr unbeliebt ist und seine Legislaturperiode sicher nicht verlängert wird. Vor der Wahl habe er viele Versprechungen gemacht hat, die er nicht eingehalten habe und er sei korrupt, er würde Teile des Regierungsbudgets seinen Familienangehörigen zukommen lassen, z.B. seiner Frau, die eine Firma betreibe. "Aha, und woher bekommt ihr solche Informationen?" frage ich verwundert, denn ich habe hier noch nirgendwo eine Zeitung gesehen und auch nicht mitbekommen, dass jemand eine Nachrichtensendung im Radio hört. "Von Transparency International und von Wan Smolbag", lautet die Antwort, "die informieren uns gut über die Geschehnisse in Vila."

In White Sands platziert uns Willy unter einem schattigen Baum und zieht sich mit den Spielern für eine Ruhepause zurück. Eine alleine sitzende junge Frau, Nora, beginnt scheu ein Gespräch. Sie sagt sie sei die Ehefrau eines Spielers aus Port Resolution. Während wir uns gut mit ihr unterhalten, breitet eine Familie etwa 10 Meter von uns entfernt ein Picknick aus. Ohne, dass wir vorher Kontakt zu den Leuten gehabt hätten, bekommen wir zwei Teller gereicht, eine große Portion Reis und einen leckerer Salat mit Thunfisch. Nora bekommt keinen Teller. Einerseits freuen wir uns über das willkommene Essen, andererseits beschämt uns die Tatsache, dass wir bevorzugt behandelt werden. Ich gebe Nora unser letztes Schinkenbrot, ein mit einer Scheibe Serrano-Schinken belegtes, von Joachim gebackenes Sauerteigbrot. Nora isst wenig davon und steckt den Rest in ihre Tasche. Erst denke ich, dass sie den ungewohnten Geschmack vielleicht nicht mag. Etwas später kommt mir aber eine andere Idee. Die Salzstangen, die ich nämlich als nächstes aus unserem Rucksack hervorkrame, schmecken ihr offensichtlich gut. Während Joachim damit beschäftigt ist, die Fußballer zu fotografieren, knabbern wir beide an den Salzstangen und ich verteile sie großzügig an die Kinder, die um uns herumspringen. Irgendwann als gerade keiner in die Schachtel greift, steckt Nora die halbvolle Schachtel schnell zurück in eine Tüte. Schlagartig wird mir klar, dass Nora die Salzstangen aufheben möchte und schenke sie ihr. Sie will bestimmt jemanden von ihren Lieben kosten lassen, sowohl von den Salzstangen, als auch vom Schinkenbrot, vielleicht ihre 13jährige Tochter?

 

Nora fragt, ob Joachim sie auch fotografieren kann, sie braucht ebenfalls Passbilder. Sie möchte einen Reisepass, denn sie will als Obstpflückerin nach Neuseeland gehen, um dort Geld zu verdienen, mit dem sie auf Tanna ein eigenes kleines Geschäft gründen will. Das Problem auf Tanna bestehe nämlich darin, das Startkapital für ein eigenes Geschäft zusammen zu bekommen. Was genau sie machen will, erfahre ich nicht. Von einer anderen Seglerin hat Nora eine Nähmaschine, vielleicht will sie eine Näherei aufmachen. Ein selbstgemachtes Kleid trägt sie schon. "Wie betreibst Du die Nähmaschine denn, hast Du zuhause Strom?" will ich wissen. "Nein, aber es geht auch ohne, die Maschine hat ja ein Handrad" ist die Antwort. Von Nora erfahren wir auch, wie hoch die Schulgebühren sind, die Eltern aufbringen müssen, die ihre Kinder in die Oberschule schicken wollen. Die ersten sechs Schuljahre sind frei, aber danach wird es teuer: Es sind drei Trimester zu bezahlen, die pro Jahr etwa 75.000 Vatu verschlingen. Soviel Geld zu erwerben und zu sparen ist eine schwere Aufgabe für Nora und für die meisten Eltern. Vermutlich will sie deshalb Obstpflückerin in Neuseeland werden. Ich frage sie, was sie sich für die Zukunft ihrer Tochter wünscht. "Dass sie Lehrerin wird", antwortet Nora lächelnd.

Dann beginnt das Fußball-Match Port Resolution gegen White Sands, die Lokalmatadore. Vor dem Spiel hatten uns alle möglichen Leute aus Port Resolution stolz erzählt, dass ihre Mannschaft die stärkste ist, dass sie die amtierenden Champions der Liga sind. Es klingt so, als sei unzweifelhaft, dass sie auch dieses Spiel haushoch gewinnen. Doch was ist das? Schon nach wenigen Minuten fällt White Sands erstes Tor. Port Resolution macht auf dem Rasen keine gute Figur. Ständig rollt einer der Spieler auf dem Boden, es kommt kein Fluss ins Spiel. Die Gegner erzielen ein Tor nach dem anderen. Als es 5:1 steht wünscht der Stadionsprecher den Zuschauern einen guten Heimweg, obwohl das Spiel noch gar nicht zu Ende ist. Dennoch brechen jetzt alle auf. Willy hatte uns gesagt, dass wir für den Rückweg in einem Auto mitfahren können, aber die Jungs spielen ja noch. Bei diesem Spielausgang sind wir nicht erpicht darauf mit der Mannschaft zurückzufahren, die Stimmung ist sicher nicht gut. Am Ende heißt es noch, wir, die weißen Gäste, hätten Unglück gebracht. Auf Tanna halten wir so etwas für möglich, hier hängen noch viele dem Aberglaube an.

 

Als die stämmige, gut gekleidete Dame, die mit ihrem Clan etwas vor uns auf dem Rasen saß, uns einlädt, mit ihr und vielen anderen zusammen die Ladefläche eines Pick-ups zu besteigen, fragen wir zweimal, ob wir wirklich mitfahren können, denn wir haben ja kein Geld. "Ja, steigt ein", nickt sie. Es sind viel mehr Leute auf dem Heimweg, als Transportmittel da sind. Obwohl jedes Auto mehrfach nach White Sands fährt und Leute abholt, müssen viele zu Fuß gehen. Auch Nora winkt uns von der Straße aus zu. Wieder überfällt mich eine leichte Bitterkeit, denn Nora hatte sich frühzeitig von uns verabschiedet, angeblich um einen Platz in einem Auto zu bekommen. Als weiße Besucher erfahren wir also schon wieder ein Privileg. Die Dame, die uns die Taxifahrt spendiert, heißt Jocelyn. Als wir das Auto zu dritt am Ortseingang von Port Resolution verlassen, lädt sie uns ein, sie noch auf einen Sprung nach Hause zu begleiten. Da wir ihr morgen ein Geschenk bringen wollen, stimmen wir zu, denn so sehen wir, wo genau sie wohnt. Sie sei die Frau eines Chiefs, erzählt sie stolz. Der Nakamal ihres Mannes Sam sei ein besonders bedeutender Nakamal. Wir haben das Wort Nakamal zwar schon gehört und gelesen, aber nach wie vor nur eine schwammige Vorstellung davon, was das ist. Jocelyn führt uns auf eine Anhöhe, vorbei an einem kleinen ärmlichen Dorf, bis wir auf einen großen freien Platz gelangen, an dessen Rand einige große Banyan-Bäume stehen. In einer Ecke steht eine rostige Blechhütte. Der Platz und die Hütte, dies ist der Nakamal ihres Dorfes, hier werden Versammlungen abgehalten und wichtige Entscheidungen getroffen. Auf ein paar Baumstämmen lassen wir uns nieder und Jocelyn beginnt zu erzählen. Es sei ihre Aufgabe uns zu erzählen, damit wir die Wahrheit erführen, leitet sie ein, denn es gäbe in Port Resolution zu viele, die Unwahrheiten erzählen würden.

Jocelyns Welt

Sie beginnt mit der sprachlichen Vielfalt Tannas. Ihr zufolge werden auf Tanna über 70 verschiedene Sprachen, gesprochen, manche davon nur von wenigen Leuten. Laut Stanley sind es "nur" 32. Aus Tanna stammen viele der vanuatischen Minister fährt sie fort und leitet ab, dass die Menschen auf Tanna besonders clever und gute Führer sind. Ihre eigene Familie hat auch Regierungsmitglieder und in Kürze würde die Regierung in Vila beschließen, dass bestimmte Entscheidungen von den Chiefs getroffen würden, und dieser Nakamal sei dafür ausgewählt. Ihr Mann Sam ist nämlich ein Paramount Chief und sein Nakamal ein Supreme Nakamal. Dann erzählt sie vom Friedensstein, der diesen Nakamal auszeichnet. Falls man sich in einem Kampf auf der Flucht befindet, muss man nur diesen Stein erreichen dann ist man gerettet. Ob wir den Stein sehen wollen, er stehe da drüben unter dem Banyan-Baum, will sie wissen und deutet in Richtung eines großen Loches im Stamm des Baumes. Ich laufe zum Fuß des gigantisch großen Baumes und denke der Stein befinde sich in dieser Baumhöhle. Ich starre rein, kann aber keinen Stein erkennen. Jocelyn ist mir gefolgt und sagt mit etwas scharfem Ton: "Nein, er ist direkt vor deinen Füßen und du darfst ihn nicht berühren, es ist ein heiliger Stein." Ich blicke vor meine Zehenspitzen und entdecke einen schmalen, flachen, unscheinbaren Stein, der ein paar Zentimeter weit aus dem Boden ragt. Er ist kaum zu sehen. Im Leben wären wir nicht auf die Idee gekommen, dass dieses Steinchen besondere Bedeutung hat!

 

Wir wissen nicht, wie viel Glauben wir Jocelyns Geschichten schenken dürfen, alles klingt so versponnen. Dann allerdings beginnt sie von ihren Kindern zu erzählen, von einem Verwandten, der als Anwalt in Hongkong arbeitet und davon wie wichtig es ihr und Sam ist, dass die Kinder eine gute Ausbildung bekommen. Auf einmal macht sie den Eindruck, eine Frau zu sein, die die Zukunftschancen ihres Landes richtig einschätzt und die selbst erstaunlich gebildet ist. Auch um Kirche und Religion geht es, denn Jocelyn ist eine praktizierende Christin. Damit unterscheidet sie sich von vielen anderen Bewohnern Tannas, von denen seit den 40er Jahren viele aus den christlichen Kirchen ausgetreten sind. Kurz bevor es dunkel wird, verlassen wir sie, nachdem wir noch kurz auf dem Vorplatz ihres Hauses gesessen und weiter palavert haben. Das Haus sieht etwas größer und komfortabler aus als die Hütten, die wir aus dem Dorf unten am Ankerplatz kennen. Jocelyn trägt etwas Goldschmuck und hat lackierte Fingernägel, was sie ebenfalls von den Frauen abhebt, die wir bislang kennen. Sie ist eben die Frau eines Chiefs denken wir uns und verabreden, dass wir am nächsten Morgen nochmal vorbei kommen. "Kommt wann Ihr wollt, ich bin den ganzen Morgen da" sagt sie. Einem Mann, der mit einer Kava-Wurzel und einer Papaya in der Hand vorbei geht, nimmt sie die Papaya ab und gibt sie uns. "Ich darf das, denn ich bin die Frau des Chiefs und stehe somit höher als dieser Mann" erklärt sie. Uns tut der Mann leid, der uns zusammen mit Jocelyn begegnen musste und deshalb seine Papaya los ist.

 

Bevor wir am nächsten Tag mit Geschenken ausgerüstet wieder hoch nach Iakupen traben, gehen wir erst in Ireupuow in die Schule, denn wir wollen Willy fragen, wie es mit den Fotos weitergehen soll. Sein Klassenzimmer ist verwaist, Willie ist krank. Ach so, alles klar... Dafür ist ein Ärzteteam aus Neuseeland da. Augen- und Zahnärzte, von denen einige den Schülern einen Gruppenvortrag halten und andere erste Behandlungen durchführen. Zufällig läuft uns, mit geschwollener Lippe und einer neuen Sonnenbrille im Haar, Jocelyn aus der Krankenstation heraus in die Arme. Ein Glück, dass wir noch nicht vor ihrem Haus stehen. Von wegen ich bin den ganzen Morgen zuhause. Jocelyn bedeutet, dass wir uns hinsetzten und mit ihr zusammen auf Sam warten sollen. Beiden wurde ein Zahn gezogen und sie sind zufrieden, dass es nur einer war. Auf dem Weg nach Iakupen läuft Sam mit Joachim voraus und Jocelyn und ich mit etwas Abstand hinterher. Wir führen Frauengespräche. Ich erfahre einiges über ihre Geburten und gebe wieder, was mir meine Freundinnen zu diesem Thema erzählt haben. Außerdem fragt mich Jocelyn über Joachims und meinen beruflichen Werdegang aus. Sam stellt Joachim fast dieselben Fragen, stellen wir hinterher fest, als wir wieder vereint sind. Beide bekamen wir dieselbe Botschaft mitgeteilt: Dass Vanuatu Leute wie uns gut gebrauchen könne und ob wir uns nicht vorstellen können da zu bleiben. Wir könnten problemlos die Staatsbürgerschaft bekommen, wenn wir das wollten. Insbesondere Joachims handwerkliche Fähigkeiten finden die beiden interessant. Er könne doch hier jungen Leuten das Handwerk beibringen. Ich versuche Jocelyn zu erklären, dass Joachim dafür verschiedene Maschinen und Geräte braucht, die Strom benötigen (den es hier nicht gibt) und dass die Handwerksausbildung in Deutschland zwar sehr gut, aber auch langwierig ist. Es dauert Jahre, bis ein Lehrling wirklich gelernt hat, wie's geht und nochmals Jahre, bis er selbst Meister werden kann. Ich bin mir sicher, so stellt sich Jocelyn das nicht vor.

 

Heute will sie uns ihre Felder zeigen sowie Captain Cooks Hut, einen nach dem Seefahrer benannten Felsen, der vor der Küste im Meer ragt. Von Land aus kann man Captain Cooks Hut nur sehen, wenn man über Sams Gelände läuft, was ohne Erlaubnis verboten ist. Ohne ihre Begleitung hätten wir weder Anstalten unternommen, den Felsen zu besichtigen noch Chancen gehabt ihn zu finden, denn mal laufen wir auf schmalen Trampelpfaden, mal irgendwo mitten durch unwegsames Gelände. Jocelyn hat ihre Machete dabei. Oft steht sie selbst etwas ratlos vor einem Hindernis und überlegt, an welcher Seite wir es am besten passieren. Beherzt steigt sie über Äste und Baumstämme, die uns den Weg versperren und ab und zu kappt sie einen Ast mit der Machete. Nach einer Weile erreichen wir ihr Feld, auf dem hauptsächlich Wurzelgemüse wächst. Tomaten findet sie auf ihrem Acker keine, aber auf dem ihres Neffen. Sie erntet dort alle kleinen roten Früchte, eine Handvoll Kirschtomaten und drückt sie uns in die Hand. Sie darf das, denn sie ist ja die Frau des Chiefs und das gesamte Land gehört sowieso Sam. Aus ihrem eigenen Garten bekommen wir Gurken und Salat. Schließlich schneidet sie noch eine Stange Zuckerrohr, damit wir was Süßes zu lutschen haben. Oft kann sie nicht hierher kommen, denken wir uns insgeheim, so verwildert wie alles ist.

 

Als Chief ist Sam verpflichtet, jedem Familienmitglied Land zu geben, das der Bittsteller bewirtschaften darf. Bezahlt wird mit Schweinen, dem am höchsten bewerteten Gut auf Tanna. Auch den Ausländern aus Ireupuow habe man Land gegeben, erzählt Jocelyn. Ihrer Ansicht nach wohnen in Ireupuow nämlich lauter Zugezogene, die eigentlich woanders her stammen. Stanleys Familie beispielsweise stamme eigentlich von der Insel Erromango. Seine Vorfahren hätten dort einen Missionar erschlagen und daraufhin habe die Familie flüchten müssen. "Mit dieser Vergangenheit können die Nachfahren nie zu rechtschaffenen Leuten werden" urteilt sie. Dass wir selbst nicht 100%ig von Stanleys Rechtschaffenheit überzeugt sind, mögen wir ihr nicht erzählen. Die Missionarsgeschichte hat sich vor über 200 Jahren abgespielt. Es kann nicht sein, dass die Nachfahren dieses Vergehens bezichtigt werden. Überhaupt hackt Jocelyn immer wieder auf Stanley und seinem Kumpel, dem Yachtclub-Manager, herum. Wir denken sie ist eifersüchtig auf die Gaben, die der Yachtclub von den Seglern erhält und von denen sie und ihr Dorf nichts abbekommen. Ireupuow hat einen eigenen Chief, daher reicht ihre Macht als Chief-Gattin nicht nach Ireupuow.

 

Am Aussichtspunkt zu Captain Cooks Hut rüber fällt die Küste senkrecht ins Meer. Tief unten sehen wir zwei Jungen auf dem Riff spielen. Das ist mein Junge mit seinem Freund, sagt Jocelyn arglos. Erst als ich sie verwundert frage, ob er denn heute keine Schule hat, wird ihr wohl bewusst, dass zumindest wir den Sprössling mitten in der Woche morgens um 11h an einem anderen Ort vermuten. Sie nuschelt etwas von "Schulgeld nicht bezahlt und deshalb darf das Kind grad nicht in die Schule gehen". Doch das kann nicht stimmen, denn der Kerl ist noch zu klein für die Oberschule. Vielleicht findet seine Mutter, dass der Schulbesuch für einen zukünftigen Chief nicht so wichtig ist, sondern dass er besser Beziehungen zu seinen Altersgenossen aufbaut. Die scheinen auch nicht alle in die Schule zu gehen. Wie es auch sei, jedenfalls bröckelt die Geschichte, wie wichtig Jocelyn die Bildung ihrer Kinder ist, in diesem Moment gewaltig.

Während wir zurück zu ihrem Haus laufen, zeigt sie uns eine Heilpflanze und erklärt, wofür man sie nutzen kann. Das ist hoch interessant, wenngleich wir uns viel zu wenig in der Botanik auskennen, um die Pflanze jemals wiedererkennen zu können. Dann driftet das Gespräch in eine Richtung, über die wir innerlich nur den Kopf schütteln. Religiöse Ansichten vermischen sich mit vanuatischem Aberglauben. Sam "macht" z.B. das Wetter. Alle Chiefs können das, auch ihr Sohn, der einmal Chief werden wird (der, der gerade am Riff schnorchelt statt die Schulbank zu drücken), wird das lernen. Natürlich gibt es zu bestimmten Jahreszeiten vorherrschende Wettersituationen, aber ein Chief kann das Wetter nach seinem Gusto beeinflussen. Wenn etwa eine verfeindete Familie ein großes Fest feiert, kann ein Chief das Fest im Regen untergehen lassen. Das habe man bei einem ihrer Feste getan. Natürlich würde sich Sam dafür rächen. Im Scherz fragen wir, ob wir Sam bitten können uns günstige Winde für die Weiterreise nach Aneityum zu schicken, falls die nicht von selbst kommen. "Selbstverständlich kann Sam das für Euch tun." Wir wollen es nicht darauf ankommen lassen und wollen Jocelyn auch nicht belehren, indem wir sie einweihen, dass wir jeden Tag Wetterprognosen von Meteorologen beziehen, die mit ausgeklügelten wissenschaftlichen Modellen auf Basis einer großen Anzahl Messdaten sehr präzise vorhersagen, wie sich das Wetter der kommenden Tage entwickeln wird. Sie würde uns das eh nicht glauben.

 

Schließlich erzählt sie uns noch, dass heute alle jungen Männer damit beschäftigt sind, ein Stück Land zu roden, welches einmal die Landbahn für einen Flughafen in Port Resolution werden soll. Ein Franzose hat das Projekt vor Jahren begonnen, aber der ist weg und das dafür vorgesehene Land wieder verwildert. Ein Flughafen sei aber eine gute Einnahmequelle für Port Resolution, also werde jeden Donnerstagnachmittag gemeinschaftlich das Land für ein zukünftiges Projekt vorbereitet. Auch dazu sagen wir lieber nichts. Tanna hat einen Flughafen im Norden der Insel, der täglich von Vila aus angeflogen wird. Nur ist leider die Fahrt für jemanden, der dort ankommt und nach Port Resolution will, ziemlich beschwerlich. Die ungeteerte Straße hat tausend Schlaglöcher. Port Resolution braucht unserer Meinung nach eine Straße und keinen Flughafen. Und Strom. Und Wasserversorgung. Und Internet. Und...

 

Als wir nach Ireupuow zurückkommen, gehen wir nochmals an der Schule vorbei. Die Ärzte dort langweilen sich, denn außer den Chiefs heute Morgen kommt kaum jemand, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Es sind Leute, die ihre Freizeit, ihren Urlaub dafür opfern, hier umsonst zu arbeiten. Wir finden es unglaublich, dass sie so wenig Wertschätzung erfahren. Wenigstens können sie dem Roten Kreuz und uns einen Gefallen tun, sie nehmen nämlich unsere Hilfsgüterladung aus Port Vila mit und bringen sie zu Tannas Rot-Kreuz-Station in der Nähe von Lenakel. Die Krankenschwester hat das eingefädelt, denn sie weiß wo der Empfänger wohnt und sie schüttelte mit dem Kopf, als ich sie fragte, ob wir Stanley wohl den Karton übergeben könnten, wenn es uns nicht gelänge, mit dem Empfänger Kontakt aufzunehmen. Nein, der Yachtclub sei dafür keine gute Adresse, aber ihr könnten wir vertrauen. So oft wie sie mir in die Augen schaut und mir versichert, dass sie das Paket garantiert zum Empfänger bringen würde, dass sie wisse wo er wohne, glaube ich ihr. Wir erzählen den Ärzten schließlich, dass alle jungen Männer aus Port Resolution heute nicht im Dorf sind und nicht kommen können, da sie gemeinsam roden. Aber wir fragen uns schon, warum niemand gesagt hat, dass die Arbeiten auch auf einen anderen Tag verlegt werden können. Vorausschauende Planung scheint in Tanna nicht stattzufinden. Und warum haben die Chiefs, die ja selbst die ärztlichen Leistungen in Anspruch genommen haben, nicht dafür gesorgt, dass die anderen Dorfbewohner auch hingehen?

Wozu planen?

Dass mangelnde Planung kein Einzelfall ist, merken wir kurz darauf selbst. Abends gegen 17h ist Willy nicht mehr krank sondern sitzt mit ein paar Fußball-Kumpels unter einem Baum. Die Mannschaft ist auch gut gelaunt. Man habe verloren, da man bewusst sehr defensiv gespielt habe. In zwei Wochen fände ein anderes Turnier statt, das viel wichtiger sei und in dem es 100.000 Vatu zu gewinnen gäbe. Man hätte in White Sands keine Verletzungen riskieren wollen, heißt es jetzt. Ahhh soooo ja...

 

Endlich können wir Willy fragen, welches Format die Fotos bekommen sollen, wann die Übergabe stattfinden kann und ob er schon ein Paddel für Joachim als Gegengeschenk gefunden hat. Denn auch in diesem Fall finden wir, dass es besser ist, wenn die Männer im Gegenzug für die Fotos etwas geben. Joachim wünscht sich ein schönes Original-Paddel eines Outrigger-Kanus. Es gibt bestimmt jemanden, der ein altes Paddel hat, das er abgeben kann, Willy muss ihn nur finden. Willy hat diesbezüglich noch nichts getan und über das Foto-Format ist er sich auch nicht im Klaren. Den Spielerpass, auf dem wir das Fotoformat abmessen könnten, hat er nicht dabei. In White Sands hatte er ihn angeblich dabei, hat ihn Joachim aber nicht gezeigt. So sagt er einfach irgendein Format, eines, das viel kleiner als das Passfoto ist, das er uns vorgelegt hatte.

 

Der pummelige Dixon, der nicht zur Fußball-Mannschaft gehört, hat allerdings ein Paddel für Joachim gefunden. Der Besitzer möchte 500 Vatu dafür haben. Dixons Nachbarin, Lea, die Restaurant-Besitzerin, ist bereit das Paddel für 500 Vatu zu kaufen und uns zu geben, denn sie möchte Joachim helfen. Das kommt natürlich gar nicht infrage. Wir sagen Lea, dass die Fußballer die 500 Vatu auftreiben müssen. In White Sands haben sie, obwohl sie das Spiel verloren haben, gerade 10.000 Vatu Prämie kassiert. Bei einem Gegenwert der Fotos von 75.000 muss ein Paddel für 500 drin sein. Dixon ist nicht sonderlich scharf darauf, mit zu den Fußballern zu gehen, doch wir wollen wissen, ob alle zusammen den Deal abschließen. Willy stimmt zu. Er fragt, ob wir morgen früh um 10h in der Schule sein können, um die Fotos zu übergeben. Und Dixon will auch Fruchtpflücker werden und braucht auch noch ein Passfoto.

 

Am Abend formatieren und drucken wir wie die Weltmeister, zum Glück reicht die Tinte für die gute Tat. Am nächsten Morgen geht Joachim alleine zur Schule. Es ist Freitagmorgen, 10 h. Alle Klassenräume sind zu, auch die Krankenstation. Weit und breit kein Schüler, kein Lehrer, keine Krankenschwester. Frustriert kehrt Joachim zum Boot zurück. Mittags haben wir uns im Dorf bei Lea zum Essen angemeldet und fragen, was bloß los ist. "Die Lehrer sucht ihr? Die sind heute alle in Lenakel, heute ist doch Zahltag." Am Zahltag fahren alle Regierungsangestellten zur Bank und holen ihr Geld, erfahren wir jetzt. Und warum hat Willy das gestern Abend nicht gewusst? Darauf gibt es keine Antwort. Auch Dixon ist nicht zu finden, obwohl er doch fotografiert werden möchte.

 

So nett die Leute hier sind, so wenig verstehen wir sie. Niemand scheint im vorraus zu wissen, was er in den kommenden 12 Stunden tun wird. Und wenn Zahltag ist, fällt die Schule einfach aus! Zahltag ist übrigens alle 14 Tage. Plötzlich wird uns klar, warum es in Europa die Postbank gibt. Was man hier bräuchte wäre ein Bote, der den Leuten ihr Gehalt nach Port Resolution bringt. Doch es gibt ja noch nicht mal einen Postboten. In Lenakel haben die Leute Postfächer, die sie in unregelmäßigen Abständen leeren. Post bekommt hier eh kaum jemand, kommuniziert wird per sms, wenn es direkt nicht geht. Und bestimmt ist niemand dafür, einen Boten geschickt zu bekommen, der den Ausflug nach Lenakel überflüssig macht. Wenn Zahltag ist, herrscht dort immer heitere Stimmung, hören wir.

Der weiße Mann bringt Geld

Jon Frum ist eine von Anthropologen "Cargo-Kult" genannte Kult-Gemeinschaft, deren Zentrum auf Tanna in Port Resolution und in Sulphur Bay liegt. Ca. 80% der Bewohner dieser Dörfer sind Anhänger des Kultes. Sie glauben an einen Heilsbringer namens "John from Amerika", kurz "Jon Frum", der ihnen die Güter, die sie sich wünschen (Radios, Kühlschränke, Lastwagen, Schiffe, Uhren, Eisboxen, Medizin, Coca-Cola und viele andere wunderbare Dinge) zukommen lassen wird – daher der Name Cargo - und es ihnen erlaubt, sich auf die Bewahrung ihrer Traditionen zu konzentrieren. Dazu gehört die Verehrung einer Vielzahl von Naturgöttern, der Glaube an Magie, Kava-Trinken sowie traditionelle Lieder und Musik. Der Kult entstand Ende der 30er / Anfang der 40er Jahre, kurz bevor amerikanische Truppen in Vanuatu Stellungen für den zweiten Weltkrieg anlegten und dafür per Flugzeug unvorstellbare Mengen an nie zuvor gesehenen Gütern auf die Inseln brachten. Herkunft und Entstehung dieser Dinge konnten sich die Bewohner Tannas nicht erklären, Magie musste im Spiel sein, so viel war klar. Ein paar alte Herren berichteten, dass John ihnen als Geist erschienen sei, und dass er sich, wenn er verehrt würde, erkenntlich zeigen würde. Reihenweise traten die Leute daraufhin aus den christlichen Kirchen aus und gründeten den Jon Frum Kult. Im Laufe der Jahre haben sich die Jon Frummers zu einer politisch aktiven Glaubensgemeinschaft entwickelt, die im Vanuatischen Parlament vertreten ist. Sie finden nämlich, dass die Regierung heilsbringende Ausländer wie John gut behandeln muss, damit John sich letztlich erkenntlich zeigen wird, und sie sind nicht überzeugt davon, dass die Regierung immer dementsprechend handelt. Als wir davon lesen, lachen wir darüber. Aber dann kommt uns der Gedanke, dass wir Teil der Phänomens sind, das John vorhergesagt hat. Denn in der Tat bringen wir Geld und Geschenke nach Tanna und haben Spaß am Umgang mit den freundlichen Menschen.

 

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Amerika in der Heimat die Kultur der indianischen Ureinwohner fast vollständig ausgelöscht hat und sich vorstellt, dass es auch damals schon Amerikaner gab, welche die Konsequenzen dieses Handelns sahen und andere Nationen vor dem gleichen Schicksal bewahren wollten, erscheint es uns gar nicht so unwahrscheinlich, dass tatsächlich ein Amerikaner auf Tanna war und den alten Herren gute Ratschläge gab. Falls er dies zur Zeit der Kava-Zeremonie am frühen Abend tat und er eine mystisch wirkende, stattliche Gestalt hatte, könnte man sich leicht erklären, dass die Herren in ihrem leichten narkotischen Rausch glaubten, eine Erscheinung vor sich zu haben. Wohlgemerkt, das sind alles nur unsere persönliche Vermutungen, keine gesicherten Fakten. Jedenfalls sind die Jon Frummers insgesamt stolze, in sich ruhende Leute, die Zufriedenheit ausstrahlen. Sie führen das über Generationen gelebte Leben fort, haben funktionierende Gemeinschaften, streben nur nach wenigen modernen Gütern und erfreuen sich ansonsten an ihrem einfachen, aber erfüllten Leben, in dem es keine echte Not gibt. Die weißen Touristen bringen Geld nach Tanna und wenn man sie freundlich aufnimmt, folgen ihnen neue Touristen mit neuem Geld. Was will man mehr? Wenn wir uns Tanna anschauen und uns überlegen, was wirklich wichtig für die Leute ist, was ihnen auf Dauer ein glückliches Leben erhält, ist es sicher nicht das Streben nach Besitz und Arbeit in industriellen Berufen.

Mit Mary ins Kastom-Dorf

Dann möchten wir ein Kastom-Dorf besuchen, in dem die Leute nicht nur noch in Strohhütten leben, sondern in dem sie auch noch die traditionellen Kleidungsstücke aus Bast tragen, die Frauen Baströcke und die Männer Penisköcher. Während des Fußball-Spiels hatte ich mich erkundigt, ob wir dafür auf die andere Seite der Insel fahren müssen. Laut Reiseführer liegen dort zwei Kastom-Dörfer. „Nein, das könnt ihr einfacher haben, ganz in der Nähe von Port Resolution liegt doch Etapu, das ist auch ein Kastom-Dorf", erfahre ich von Roger, einem spanischen Weltreisenden, der schon seit Jahren viel Zeit in Vanuatu verbringt. Zu Fuß ist es etwa eine Stunde von Port Resolution nach Etapu. Wir fragen Stanley, ob wir einfach so nach Etapu gehen können, oder ob wir einen Führer brauchen. Stanley meint, dass wir alleine hingehen können, aber seine Schwester besteht darauf, uns zu begleiten. Uns ist das sehr recht, denn Mary ist eine nette junge Frau und es macht Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Mary hat eine Salatgurke als Wegzehrung für uns drei mitgenommen. Über den Apfel aus Vila, den ich ihr im Gegenzug anbiete, freut sie sich sehr, denn Äpfel gibt es in Port Resolution nicht. Wie zuvor Nora will auch Mary den Apfel mit nach Hause nehmen, auch sie wird ihn wahrscheinlich mit ihrem Kind teilen.

 

Marys Geschichte ist eine wahrscheinlich typische für Frauen in den ländlichen Gegenden Vanuatus. Sie ging in Lenakel zur Oberschule solange ein Onkel das Schulgeld bezahlte. Der lebte allerdings auf Efate und eines Tages blieben die Zahlungen aus. Mary konnte die Schule nicht beenden und zog zurück nach Port Resolution. Sie bekam ein Kind und jetzt lebt sie eben bei ihrem Familienclan und zieht das Kind in einer Strohhütte groß, ohne Aussicht auf ein eigenes Einkommen. Doch sie macht einen zufriedenen Eindruck. Geschickt lässt sie in ihre Erzählungen einfließen, was sie gerne mag, z.B. Schokolade, was sie braucht, z.B. eine Stirnlampe und dass sie sich kleine Ohrringe wünscht. Wir mögen sie, daher bekommt sie meine eigenen Ohrstecker geschenkt, eine Stirnlampe und Joachim rückt eine Tafel Lindt Schokolade raus, vom best gehüteten Schatz bei uns an Bord. Hoffentlich weiß sie diese Auszeichnung zu schätzen.

 

Dafür meldet Mary uns beim Chief in Etapu an und fragt, ob man uns die Kastom-Tänze vorführen könne. Der Moment unseres Kommens ist nicht besonders günstig, denn die meisten Männer und Frauen des Dorfes sind gerade auf den Feldern. Aber die paar männlichen Dorfbewohner, die anwesend sind, willigen ein für uns zu tanzen und im Gegenzug Tauschgeschenke zu erhalten. Geschwind tauschen sie normale westliche Bekleidung gegen die spärliche traditionelle, die nur ihre Männlichkeit verdeckt, und beginnen zu singen, mit den Händen zu klatschen und Tänze vorzuführen, die überwiegend aus schweren Stampf-Schritten bestehen. Gesang und Tänze sind nicht besonders raffiniert, sie wirken archaisch. Auch hier gilt wohl: Machen wir so, wie wir es schon immer gemacht haben. Wir dürfen fotografieren soviel wir wollen. Eine Lampe, ein gutes Taschenmesser, Angelleine, -haken und –köder werden nach Beendigung der kleinen Vorführung gerne angenommen. Dann werden uns noch Souvenirs zum Kauf angeboten, vor allem kleine Steinschnitzereien. Eine skurrile Skulptur möchte ich haben. Als wir dafür ein gutes Stück Seil anbieten, strahlt der Empfänger über das ganze Gesicht. Das Seil war wohl unser begehrtester Tausch-Gegenstand.

Auch in Tanna ist nicht alles Gold, was glänzt

Doch das in Tanna besonders ausgeprägte Haften an alten Traditionen hat auch negative Seiten. Da alle darauf bedacht sind, alles so zu machen, "wie wir es auf Tanna schon immer machen", hält Fortschritt hier nur zögerlich Einzug. Ein paar moderne Gegenstände wie z.B. Mobiltelefone und DVD-Player haben einige Leute, aber sie haben selten genügend Strom, um die Akkus zu laden, oder nicht den richtigen Stecker. Es gibt einzelne Autos, aber keine ordentliche Straße. Die Autos werden nicht lange halten. Fahrten mit den Autos sind daher sehr teuer. Plötzlich brauchen die Leute Geld fürs Autofahren und für die Mobiltelefon-Gebühren. Wir fragen uns, warum hier niemand reitet oder Kutsche statt Auto fährt. In Tannas Norden gibt es Wildpferde, die die Nachfahren von Stuten und Hengsten eines australischen Farmers sind, der die Farm aufgegeben und die Pferde frei gelassen hat. Jeder der ein Pferd haben möchte, kann sich eins fangen. "Wir haben ja Autos, wir brauchen keine Pferde mehr" bekommen wir gesagt. Frauen dürfen auf Tanna ohnehin nicht reiten, das gilt als unschicklich. Eine Kutsche hat Mary, die wir zu diesem Thema ausfragen, noch nie gesehen. Sehr wahrscheinlich weiß hier niemand, wie man ein Wagenrad herstellt. Der Mut, etwas Unbekanntes auszuprobieren, scheint ziemlich dünn gesät zu sein. "Wir wissen nicht wie das geht" bekommen wir oft zu hören, wenn wir fragen, warum man dieses und jenes nicht tut. Gar nicht glauben können wir, dass auf Tanna niemand melken kann. Es gibt Ziegen und eine Menge hübscher Kühe, aber Milch trinkt hier niemand. Milch kommt aus der Kokosnuss, doch nicht aus dem Euter! "Außerdem treten die Kühe nach uns, wenn wir sie anfassen." Solange niemand den Leuten hier zeigt, wie man ein Kälbchen zahm zieht, glaubt einem niemand, dass das geht. Andererseits: wenn sie Kuh- oder Ziegenmilch hätten, müssten sie Kühlmöglichkeiten finden oder lernen, wie man die Milch sofort weiterverarbeiten kann, etwa zu Käse. Kokosnussmilch und Trockenmilch-Pulver für die wenigen Fälle, wo sie Kuhmilch brauchen, erspart ihnen diese schwer zu lösenden Aufgaben. Landwirtschaft und Fischfang, Hühner und Schweinezucht liefern genug gesunde Nahrung, mehr brauchen die Leute nicht.

Mit dummen Tauschwaren zu Lea

Wie wenig die Leute brauchen wird mir leider erst klar, als ich Lea schon ein paar fragwürdige Geschenke überreicht habe. Lea betreibt eines der beiden kleinen Restaurants in Port Resolution. In ihrer hübsch mit bunten Stoffen dekorierten Hütte haben vier bis sechs Gäste Platz. Früher hat Lea für die Gemeinde ein Restaurant betrieben, aber jetzt ist es ihr eigenes Lokal, erzählt sie stolz. Eine andere Seglerin hatte uns von Lea erzählt und darum gebeten, doch mal bei ihr Essen zu gehen, um sie zu unterstützen. Erst wollen wir das nicht, denn wir haben ja kein Geld. Aber irgendwann komme ich auf die Idee, ihr Teile meiner Küchenausstattung abzutreten, denn vieles haben wir doppelt oder brauchen es jetzt gegen Ende der Reise nicht mehr, etwa die vielen gut schließenden Vorratsdosen. Ich denke mir, dass Lea ihre Zutaten genau wie wir vor Ameisen u.ä. Ungeziefer schützen muss. Außerdem hatte die andere Seglerin mir gesagt, dass Lea gerne Gewürze hätte. Oregano und Kreuzkümmel habe ich noch in verschlossenen Packungen, zwei Gewürze, die ich häufig und gerne einsetze. Wenn Lea die Packungen mal geöffnet hat, braucht sie auch dafür aromadichte Behälter. Wir fragen Lea, ob wir Tauschhandel mit ihrer gegen ein Mittagessen betreiben können und beschreiben grob, was wir ihr anbieten möchten. Sie willigt ein. Insbesondere die leeren weithalsigen PET-Flaschen interessieren sie, darin will sie abgekochtes Trinkwasser aufbewahren. Bei der Übergabe merke ich, dass sie mit dem Schneebesen nichts anzufangen weiß, obwohl Omelett zu ihrem Standardgericht gehört. Sie rührt das Ei mit einem Löffel etwas auf. Ihr gemüsegefülltes Omelett ist lecker, daran gibt es nichts zu verbessern. In die Vorratsdosen wird sie vielleicht Zucker, Mehl und Essensreste geben war meine Idee. Nach dem Mittagsmahl bei ihr bin ich mir dessen nicht mehr sicher. Es gibt keine Essensreste bei Lea. Wenn die Gäste nicht alles aufessen, ist sicher ein hungriges Maul in der Nähe, das die Reste augenblicklich vertilgt. Alle Zutaten, die Lea braucht, holt sie tagesfrisch vom Feld. Die Leute sind hier schon immer ohne Plastikdosen ausgekommen, warum sollten sie sie also jetzt brauchen? Mit den Gewürzen ist es wie mit dem Schneebesen. Lea hat keine Ahnung wie man damit umgeht und wozu die Aromen passen. Ich sage ihr sie solle die Aromen einfach mal im Mund ausprobieren und dann entscheiden, was sie damit würzen mag. Aber da Experimentieren auch Lea vollkommen fern zu liegen scheint, fürchte ich, dass die Auskunft, dass sie gerne mit Gewürzen koche, hier aber keine bekomme, eine Höflichkeitsauskunft war. Vielleicht hat sie mal ein Gast um Pfeffer gebeten. Ich bin froh, dass wir mit vier Ladungen dicker Batterien für ihre Taschenlampe, wenigstens ein nützliches Geschenk hatten. Nach dieser Art Batterien hatte sie explizit gefragt.

 

Richtig verärgert sind wir über junge Bootsnachbarn. Auch sie waren bei Lea essen und kurz vor dem Abschied brachte Mike ihr eine italienische Kaffeekanne als Geschenk. Die Kanne aus Aluminium ist allerdings schwer korrodiert, man kann das Unterteil nicht vom Oberteil abschrauben. Lea fragt uns, wie man die Kanne benutzt. Als wir merken, dass man sie so gar nicht benutzen kann, bietet Joachim ihr an, mit seinen Werkzeugen und Kriechölen an Bord gängig zu machen. Auch mit grober Gewalt lässt sich das nicht bewerkstelligen, die Kanne ist wertlos. So eine Frechheit von den Australiern, man verschenkt doch keinen Schrott! Als wir die Kanne zu Lea zurück tragen und ihr erklären, dass das Ding nur als Deko zu gebrauchen ist, ist das eine blöde Situation. Wir bieten ihr an, den Schrott mitzunehmen und in Neukaledonien zu entsorgen, denn der Yachtclub bittet die Segler explizit, ihren Abfall nicht auf der Insel zu lassen sondern mitzunehmen. Die Besitzer der Kanne sind weg, aber wir könnten sie an einem unserer nächsten Ziele entsorgen. Das ist zwar einerseits ein gut gemeintes und ehrliches Angebot, lässt andererseits aber kurz den Verdacht aufflackern, dass wir die Kanne vielleicht selbst gerne hätten. Ober-dämlich! Schließlich zeigt mir Lea noch ein Pulver, das sie für Milchpulver hielt, das sich aber nicht in Wasser auflöst, ebenfalls ein Geschenk von einer Seglerin. Es ist ein Vanillegetränk, das mit Milch angesetzt werden musste. Kuhmilch gibt es aber ja keine, außer bestenfalls in Pulverform. Also ist auch dieses Geschenk für Lea mehr Last als Freude. Die Arme tut mir richtig leid, denn sie ist eine so hilfsbereite und liebenswürdige Person und niemand außer ihr hat wohl so viele gut gemeinte, aber total in die Hose gegangene Geschenke bekommen. Bringe Ihr jemand einen schönen Rock oder ein schönes T-Shirt mit, daran hätte sie mehr Freude! Gr. 36-38 dürfte passen.

 

Schwer begreiflich finde ich noch folgende Geschichte, die mir Lea nach dem Essen erzählt. Nora und sie sind beide Mitglieder einer Frauengruppe, die sich einmal wöchentlich trifft. Sie sind etwa 25 Frauen, die sich gegenseitig unterstützen. Jede Woche wird in der Runde Geld für eine der Frauen gesammelt. Man gibt 1.000 oder 2.000 Vatu, je nachdem, wie viel man gerade erübrigen kann. Wer wie viel gibt und wer wie viel bekommt, wird Woche für Woche notiert, damit niemand benachteiligt wird. Lea ist stolz auf diese Leistung der Gruppe. Ich habe zunächst Schwierigkeiten, den Sinn des Handelns zu verstehen: 24 Mal spendet sie also Geld um beim 25. Mal selbst die Bedachte zu sein? Das ist doch Verteilen von der linken in die rechte Hosentasche. Aber nein, falsch. Es ist die hiesige Art und Weise zu sparen, und wahrscheinlich der sicherste Weg um zu einem bestimmten Zeitpunkt über eine größere Summe Geld zu verfügen.

Mit Ruben zur John Frum Versammlung

Jeden Freitagabend treffen sich die Jon Frummers in Sulphur Bay zu traditionellem Gesang und Tanz. Besucher sind willkommen, gegen Zahlung einer Gebühr. Die Veranstaltung beginnt um 20 h, ca. 2 Stunden nach der Kava-Zeremonie, nachdem die Männer wieder bei Sinnen sind. Wir möchten uns das anschauen, müssen aber wie immer mit Stanley klären, ob unsere Zahlung in Naturalien sowohl für die Taxifahrt als auch für die Jon Frummers in Ordnung gehen. Stanley soll die Taxifahrt als Gegenleistung für seine Lampe organisieren. Nachdem er die Lampe freudestrahlend in Empfang genommen hat, grummelt er etwas in seinen Bart, telefoniert und sagt anschließend, wir sollten um 19 h am Yachtclub sein. Wir verabreden, dass er auch da sein wird und denken, dass wir dann zu Dritt feststellen können, ob Stanley wirklich für das Taxi aufkommt. Nachmittags allerdings kommt er kurz am Schiff vorbei gerudert und erklärt, dass er abends mit Freunden zum Kava-Trinken geht und nicht zum Yachtclub kommt. Ruben nimmt außer uns beiden noch vier weitere Gäste eines nahe gelegenen Resorts mit, daher nehmen wir an, dass der Yachtclub die Kosten für die Taxifahrt rein bekommt. Während der Fahrt unterhalten wir uns prima mit Ruben, dem wir Löcher zum John Frum Kult in den Bauch fragen. Dieses Mal ist er richtig gesprächig. Entweder hat er heute einen besseren Tag oder es liegt daran, dass wir jetzt keine ganz Unbekannten mehr in Port Resolution sind.

 

Auch Rosen ist ein Jon Frummer, sein Großvater war einer der Männer, denen Jon Frum erschienen ist. Gesungen werden bei den Versammlungen die traditionellen Lieder, aber es kommen auch neue Liedtexte dazu, vernehmen wir staunend. Unter einem auf Pfählen ruhenden Blechdach sitzen ca. 20 Leute auf Schilfmatten. Vier Gitarrenspieler sitzen in der Mitte, um sie herum ein paar Greise und Kinder. Ihre Lieder sind melodisch, die Texte verstehen wir nicht. Ein alter Mann in einem Parka und drei junge Mädchen in langen Baströcken tanzen ein wenig vor der Hütte auf und ab. Die Zuschauer sitzen auf Holzbänken, die um die Versammlungshütte herum gestellt sind. Nach einer Weile werden die Gitarrenspieler von einer zweiten Gruppe Musiker abgelöst. Jetzt können wir Daniel, dem Chief unsere Aufwartung machen und unsere Naturalien anbieten. Er akzeptiert die Waren, erzählt aber, dass die Bewohner von Sulphur Bay das Geld der Touristen derzeit ansparen um damit ein Solarpanel für die Beleuchtung der Hütte zu kaufen, das momentan mit einer Kerosinlampe illuminiert wird.

 

Auf der Rückfahrt geht die Unterhaltung mit Rosen weiter. Eigentlich ist sie der interessanteste Teil des Abends. Als er die Frage, ob Sam ein besonders hoch stehender Chief sei, verneint, glauben wir ihm. Ja, Sam sei ein Chief, und ja, Sam könne das Wetter machen, bestätigt Rosen, aber er sei Ruben, dem Chief von Ireupuow gleichgestellt. Da scheint wohl Jocelyn etwas übertrieben zu haben. Auf die Frage hin, ob Tanna denn nie von Hurrikans getroffen würde, die doch regelmäßig über Vanuatu zögen, gibt Rosen zu, dass das in den vergangenen 10-20 Jahren schon ein paar Mal vorgekommen ist. Doch es ist für ihn sonnenklar, dass das aufgrund von menschlichem Versagen geschehen ist. Ein paar Leute haben ihren Job nicht ordentlich gemacht und mussten ermahnt werden, in Zukunft besser aufzupassen. Spannend finden wir, dass Rosen seine Vorfahren über 15 Generationen hinweg kennt. In Tanna ist es enorm wichtig seine Herkunft zu kennen und darüber berichten zu können. Am meisten beeindruckt uns aber Rosens wirtschaftlicher Weitblick.

 

Auf Tanna stand früher viel Sandelholz. Sandelholz war um 1830 sehr begehrt. In wenigen Jahrzehnten war allerdings der gesamte Bestand abgeholzt. Auch heutzutage ist Sandelholz noch ein sehr teures Holz und wir fragen Rosen, warum denn niemand mehr Sandelholz anbaut, damit ließe sich doch gut Geld verdienen. „Richtig, deswegen habe ich ein paar hundert Sandelholzbäume" antwortete Rosen. Zusammen mit Freunden hat er vor 20 Jahren im Norden Tannas eine Pflanzung angelegt. Die Qualität ihrer Bäume ist sehr gut, sie sind besonders ölhaltig, besser als das asiatische Sandelholz. Die Bäume müssen nur noch weitere 20 bis 30 Jahre wachsen, bevor man sie fällen kann. Leider haben wir vergessen zu fragen, ob es in der Pflanzung denn Bäume verschiedenen Alters gibt, so dass stets genügend Holz nachwächst. Bei vielen Leuten aus Port Resolution würden wir den Weitblick nicht annehmen, bei Rosen sind wir zuversichtlich.

 

Als er uns wieder am Yachtclub absetzt und wir uns gerade auf den Fußweg zurück zum Dingi machen wollen, bittet er um Bezahlung für die Fahrt. Erstaunt sehen wir ihn an. "Hat Stanley denn nicht mir Dir darüber gesprochen", fragen wir erstaunt. "Nein, hat er nicht." Stanley ist also doch ein kleiner Gauner und wir sind ihm auf den Leim gegangen, denken wir. Wir hätten ihm die Lampe nicht vor der Fahrt geben dürfen. Es wäre zwar notwendig, dass Ruben sich mit Stanley streitet, aber da Stanley die bessere Machtposition hat, wird wohl Ruben das Nachsehen haben. Da wir den Abend mit ihm so sehr genossen haben, drücke ich ihm kurzentschlossen meine eigene Stirnlampe in die Hand und frage, ob das so in Ordnung ist. Ruben nickt. Ein nagelneues Polo-Hemd von Joachim hatte er zuvor schon als Geschenk bekommen.

 

So frei wie wir uns in Port Resolution bewegt und unter die Bewohner gemischt haben, haben wir uns stets gefragt, ob wir nicht irgendeinem Chief mal unsere Aufwartungen machen müssten. Im Yachtclub hängt ein Aushang mit Foto des Chiefs und seiner Frau, der Gäste in Port Resolution willkommen heißt. Mittlerweile wissen wir, dass dieser alte Chief verstorben ist und dass sein Sohn Ruben das Amt geerbt hat. Ruben ist ein Kollege von Willy, auch er ist Lehrer an Port Resolutions Schule. Wir sind ihm ein zwei Mal begegnet, aber er hat sich nie als Chief zu Erkennen gegeben. Stanley und Werri vom Yachtclub sind vom Dorf beauftragt sich um die Gäste zu kümmern. Ruben scheint kein Interesse daran zu haben, als Chief in Erscheinung zu treten. Der Aushang im Yachtklub, der seine Eltern zeigt, wird wohl noch lange dort hängen bleiben.

 

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Weiterlesen: Vanuatu Teil 3: Aneityum (Anatom)