Vanuatu ist eine melanesische Inselgruppe zwischen Fidschi und Neukaledonien, 2.500 km östlich von Sydney gelegen. Die Gruppe besteht aus 12 großen und mehr als 60 kleinen Inseln, die sich über rund 800 km von Nordwesten nach Südosten etwa in Form eines Ypsilons anordnen. Die Hauptinseln Espiritu Santo, Efate, Tanna und Pentecost sind gebirgige Vulkaninseln, die von Korallenriffen umgeben sind. Das Klima ist tropisch-maritim im Norden und subtropisch im Süden.

 

Der souveräne Inselstaat ging aus dem seit 1906 bestehenden britisch-französischen Kondominium Neue Hebriden hervor und hat heute knapp über 243.000 Einwohner. Anfang des 20. Jh. war die Staatsform des Kondominiums, also die geteilte Herrschaft mehrerer Mächte in einem Gebiet, nicht ungewöhnlich. Nur auf den Neuen Hebriden jedoch herrschten Franzosen und Engländern mit absoluter Gleichstellung. Die Franzosen siedelten im fruchtbaren Hinterland, während die Briten sich eher an den Küsten niederließen. Es gab zwei Staatsangehörigkeiten, zwei Amtssprachen, zwei Schulsysteme, zwei Gesundheitssysteme, zwei Nationalhymnen, vier Währungen und drei Rechtssysteme. Sämtliche Entscheidungen mussten gemeinsam gefällt werden, was in der Praxis bedeutete, dass ständig Kompromisse gefunden werden mussten. Ein Umstand, der dazu führte, dass sich der Staat nur langsam weiterentwickelte. Lustig ist die Auswirkung des Kondominiums auf den Verkehr: Die Franzosen fuhren rechts, die Engländer links, Chaos war vorprogrammiert. Die Entscheidung, auf welcher Straßenseite künftig alle Fahrer fahren sollten, wurde dem Zufall überlassen: der Frage, welcher Nation das nächste importierte Fahrzeug gehören wird. Es war der Einspänner eines französischen Priesters, daher wird in Vanuatu seither rechts gefahren.

 

Wie überall auf der Welt wurde die indigene Bevölkerung von den Kolonialherren übervorteilt. Die meisten waren Analphabeten und sie sprachen über 100 verschiedene Sprachen, so dass schon die Verständigung untereinander nur stark eingeschränkt möglich war, geschweige denn, dass sie sich gegen die Inbesitznahme der Ländereien durch Europäer hätten wehren können. Heutzutage sprechen viele Ni-Vanuatu  (so nennen sich die Bewohner Vanuatus) - zusätzlich zu ihrer Stammessprache - Bislama, ein Pidgin-Englisch, sowie entweder Französisch oder Englisch als Fremdsprache. In den 1960ern drängte die Bevölkerung zu mehr Selbstbestimmung und später nach Unabhängigkeit. Volle Souveränität erlangte der Inselstaat 1980.

 

Vanuatu unterscheidet sich besonders in Politik und Geschichte von den übrigen pazifischen Inselstaaten. Politisch gilt die Nation als das "enfant terrible" des Pazifiks. Der erste Premierminister, der presbyterianische Priester Walter Lini (1942-1999), wollte Vanuatus politischen Kurs blockfrei halten. Dieser Politik war es zuzuschreiben, dass die Republik Vanuatu als einziger pazifischer Staat diplomatische Beziehungen zu Kuba, Vietnam, Nordkorea und Libyen aufnahm. Die junge Regierung in der Hauptstadt Port Vila setzte sich auch vehement für einen nuklearfreien Pazifik ein. Dadurch geriet sie mit Frankreich in Konflikt, das regelmäßig atomare Tests im Südpazifik (auf den Tuamotus) durchführte. Vanuatus beinahe missionarisches und erstaunlich souveränes Vorgehen löste bei den meisten übrigen, politisch fest im westlichen Lager verankerten pazifischen Nachbarnationen, sowohl Bewunderung als auch Sorge aus.

 

Fernab der internationalen Finanzkrise gibt es auf dem Eiland Pentecost ein Banken-Paradies im Paradies: Die Tanbunia-Bank. In dieser Bank, bei der Tauschhandel möglich ist, zählen sogar Lebensgeschichten als Wert. Vielleicht liegt es am ungewöhnlichen und soliden Wertesystem der Gesellschaft, das die Ni-Vanuatu einer Studie der New Economics Foundation zufolge (2006) die glücklichsten Menschen der Welt sind. Und das, obwohl sie öfter als sonst irgendeine Nation von Wirbelstürmen, Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüchen heimgesucht werden.

23. Sept. – 21. Okt. 2013, Vanuatu - Teil 1: Efate

Ankunft in Port Vila

Vanuatu entdecken wir zufällig als prima Zwischenstopp zwischen Samoa und Neu-Kaledonien. Wir wissen wenig über die Inselgruppe als wir dort ankommen. Auf den nördlichen Inseln gibt es Malaria, ein Grund für Joachim, lange zu zögern, ob er Vanuatu wirklich besuchen möchte. Der Umstand, dass die südlichen Inseln wenig von Malaria betroffen sind, dass gerade Trockenzeit herrscht und dass wir Prophylaxe-Medikamente an Bord haben, stimmt ihn schließlich um. Kurzentschlossen segeln wir von Samoa aus nach Vanuatu statt nach Fidschi, da es in Vanuatu leichter zu navigieren ist als in Fidschis untiefen-gespickter Inselwelt und wir dort weniger abhängig von gutem Wetter und guten Sichtbedingungen sind. Die letzten beiden Tage auf See sind anstrengend. Der Trog eines Tiefs bringt Teilen Vanuatus Starkwind um 55 km/h, in Böen bis zu 75 km/h und wir sind mitten drin. Wir steuern die Insel Efate von einer sehr südlichen Position aus an, so dass wir, als die Bedingungen am widrigsten sind, vor dem Wind ablaufen können. Die Strategie geht auf, wir fühlen uns trotz Starkwind wohl. Pagena läuft mit weitgehend gereffter Genua immer flott auf dem zuvor ausgeklügelten Kurs und die Windfahnen-Steuerung kommt prima mit Wind und Welle zurecht. Dem Platzregen, der uns kurz vor Efate erwischt, wollten wir durch langsamere Fahrt zwar entgehen, aber wenn das Schiff gut läuft bremsen wir es nicht gerne, sondern bringen das schlechte Wetter lieber hinter uns. Bekannte, die schon seit Tagen in Vila sind, lassen uns über Funk wissen, dass die Bucht gut geschützt ist und dass wir problemlos reinkommen können. Einziges Hindernis: Das Echolot versagt gerade den Dienst, wir haben nur eine ungefähre Ahnung davon, wie tief das Wasser um uns herum ist. Wir müssen uns auf die Tiefenangaben der Seekarte verlassen und am Ankerplatz mit dem Handlot nachmessen, damit die Kettenlänge stimmt.

 

Wir ankern neben der Quarantäne-Boje und informieren die Behörden über unsere Ankunft. Als erster kommt der Beamte vom Gesundheitsamt an Bord, nach ihm der Zoll. Für den Besuch der Einwanderungsbehörde werden wir an Land geschickt. Port Vila, Vanuatus Hauptstadt, entpuppt sich gleich beim ersten Landgang als nette geschäftige Stadt. Die Leute hier sehen anders aus als in Polynesien. Sie sind viel dunkler und haben krause Haare, fast fühlen wir uns auf die Kapverden zurück versetzt. Australische Touristen und Einheimische flanieren entspannt durch die Straßen und bevölkern die Terrassen der Restaurants und Cafés. In den Schaufenstern ist westliche Mode zu sehen, leichte Strandkleider und Shorts in denen man Knie zeigt, sind hier auch für Frauen wieder in Ordnung. Plakate versuchen ausländische Investoren davon zu überzeugen, dass sie ihr Geld in Vanuatu anlegen sollen, z.B. durch den Erwerb von Immobilien. Duty Free und Souvenirgeschäfte durchziehen die Stadt. Was für ein Unterschied im Vergleich zu Samoa.

 

Im Reiseführer haben wir von einer Theatergruppe namens Wan Smolbag gelesen. Die Dame in der Tourist Info weiß zwar viel, aber den Spielplan hat sie nicht. Sie empfiehlt einen Taxi-Bus zu nehmen und beim Theater selbst nachzufragen. Das Taxibus-System in Vila ist genial. Man sucht sich einen, der in die gewünschte Richtung fährt, hält ihn per Handzeichen an und sagt dem Fahrer wo man hin möchte. Fast jeder Wunsch wird erfüllt, der Reihe nach steuert er die verschiedenen Ziele der Insassen an. Alle Fahrten innerhalb des Stadtgebiets kosten 150 Vatu, knapp 1,20 €. Null Wartezeit, da etwa jedes zweite Auto auf der Straße ein Taxi-Bus ist, und Fahrt quasi von Tür zu Tür für diesen Preis ist toll. Jedermann nimmt unter diesen Bedingungen den Taxi-Bus, so dass die Fahrer stets Geld verdienen und insgesamt viel weniger Autos auf der Straße sind, als wenn jeder im eigenen Auto führe. Wir überlegen kurz, dass das auch in deutschen Städten in ähnlicher Weise funktionieren könnte. Ob wir Verkehrsminister Dobrindt Urlaub in Port Vila empfehlen sollten, damit er die Vorzüge des Systems selbst erlebt?

Ruckzuck stehen wir also vor dem Wan Smolbag Theater und lesen, dass die Theatergruppe zurzeit auf anderen Inseln Vanuatus spielt. Eine junge Frau fragt, ob sie helfen kann. Wir erzählen ihr den Grund des Kommens und sie bedauert, dass sie da nichts zu machen ist. "Aber wir haben gerade ein Filmteam da, ihr könnt kurz bei den Proben für ein neues Stück zuschauen und ich kann Euch rumführen", bietet uns Lucy an. Was sie uns anschließend zeigt, versetzt uns in tiefes Erstaunen. Wan Smolbag ist weit mehr als ein Theater. Es ist eine Hilfsorganisation, die mehr als 100 feste Mitarbeiter plus 400 freiwillige Helfer beschäftigt. Im Jugendzentrum werden Ausbildungen und Kurse angeboten, vom Umgang mit Computern über Nähen, Töpfern bis hin zu Tanzkursen. Es gibt entsprechende Werkstätten, Unterrichts- und Übungsräume, eine Klinik, in der hauptsächlich Geburtshilfe und Unfall-Ersthilfe angeboten wird, eine Bücherei, einen Garten, in dem Obst und Gemüse angepflanzt sowie kompostiert wird, eine Schulküche, in der Kenntnisse über gesunde Ernährung vermittelt werden, etc. pp. Der Bau eines Kinderspielplatzes wird gerade begonnen, mit Kompost-Toiletten wird experimentiert, für jede gute Idee scheint sich hier ein Platz und ein Betreuer zu finden. Zwei junge Mitarbeiter sind mit dem Thema Recycling beauftragt. Am beeindruckendsten finden wir die Publikations-Abteilung, die Schulungs-Material zu allen von Wan Smolbag bearbeiteten Sozial- und Umweltthemen herstellt und Multiplikatoren zur Verfügung stellt. Stolz erzählt Lucy, dass Wan Smolbag auch Fernseh-Serien produziert, die in Vanuatu sehr beliebt sind. Sie selbst, Mitarbeiterin der Buchhaltung, hat darin eine Rolle. Sie spielt die HIV-positive Gattin eines Polizisten. Da sie momentan hochschwanger ist und das natürlich nicht ins Drehbuch passt, warten alle ungeduldig auf die Geburt ihres Babys, damit die Dreharbeiten anschließend weitergehen können. Wow, was wir hier durch Zufall in Vanuatu Tolles entdecken! Wan Smolbag ist eine unglaublich professionell und clever arbeitende Hilfsorganisation, deren Fokus stärker auf Wissensverbreitung in der Bevölkerung liegt als bei allen anderen Hilfsorganisationen, die wir bislang kennen. Wer mehr über Wan Smolbag erfahren will, etwa wie es zu dem Namen kam (Wan Smolbag ist Pidgin-Englisch und heißt übersetzt "One small bag") schaut am besten auf www.wansmolbag.org.

 

Bislama ist übrigens eine lustige Sprache, die einigermaßen gut verständlich ist, wenn man sie geschrieben sieht. Englische und französische Wörter werden einfach so geschrieben wie man sie spricht. Zeitformen für Verben und komplizierte Grammatik gibt es nicht. Zeit hat in diesem Archipel noch nie eine Rolle gespielt und für viele Dinge gibt es in Vanuatu einfach keine Ausdrucksform. Wichtig und viel gebraucht ist das Wort "blong" (von belong, gehören), das sowohl Präposition als auch als Possesivpronomen sein kann. Die unabhängige Republik Vanuatu heißt in Bislama "Ripablik blong Vanuatu" und das Staatsmuseum "Miuseum blong Vanuatu". "Wie heißt Du?", "Wanem nem blong yu?" und "I have broken my leg", "Mi brekem leg blong mi." Schön, nicht? Und was heißt wohl "Hamas long hemia?" Die Krux liegt dann doch im Detail, auch in Bislama.

In Vilas Obst- und Gemüsemarkt ist eigentlich Bislama Trumpf, aber wir kommen auch mit Englisch gut zurecht. Bergeweise warten reife Tomaten, Papayas, Bananen, Salatköpfe, Gurken, Grapefruits, Kokosnüsse, Taro, Süßkartoffeln und vieles mehr auf Käufer. Meist kostet ein vorkonfektioniertes Paket 100 oder 200 Vatu, etwa 1 bzw. 2 €. Sogar eine Art Himbeeren gibt es, die kosten etwas mehr. Leute, die ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse hier anbieten, sehen arm aus. Von Wan Smolbag wissen wir, dass ein Mittelklasse-Gehalt in Vanuatu etwa 400 € im Monat beträgt. Wohl gemerkt, ein Mittelklasse-Gehalt, also das, was etwa eine Angestellte in einer Bank erhält. Die Marktfrauen müssen mit einem Bruchteil davon zurechtkommen. Das bringt uns in Erinnerung, dass wir noch viele Geschenke an Bord haben, die uns Freunde bei der Abfahrt für Bedürftige mitgegeben haben. Hier, auf dem Markt Vilas haben wir dem Gefühl nach Bedürftige vor uns. Allerdings haben wir auch gerade im Vanuatu Cruising Guide gelesen, wie kompliziert Schenken in dieser Gesellschaft ist.

 

Ein Geschenk dient der Beziehungspflege untereinander, Ausgewogenheit ist enorm wichtig. Ist es also in Ordnung, wenn wir den Marktfrauen einfach so Geschenke machen? Tauschhandel ist wahrscheinlich besser. Wir bieten Kinderbekleidung und –schuhe an und wünschen uns im Gegenzug etwas Obst und Gemüse. Zur Sicherheit fragen wir in der Tourist Info nach, ob irgendetwas gegen dieses Vorhaben spricht. Die junge Dame hinter dem Tresen findet die Idee klasse, wir sollen das ruhig ausprobieren. Auch sie glaubt, dass die Marktfrauen es besonders schwer haben, dass sie insgesamt wenig Unterstützung bekommen und dass dies ein prima Weg für sie ist, Kinderbekleidung zu erwerben.

 

Wir ziehen also mit einigen vorgepackten Tüten los und suchen Stände, an denen junge Mütter arbeiten und die Waren anbieten, von denen wir gerne etwas hätten. Während wir die Standreihen des Marktes durchstreifen, spricht uns niemand an. Das ist angenehm in Vanuatu, man wird von jedermann in Ruhe gelassen solange man sich nicht selbst artikuliert. Um Tauschhandel vorzuschlagen gehen wir stets auf die Rückseite der Stände, wo die Frauen auf Schilfmatten auf dem Boden sitzen, während sie auf Kundschaft warten. Nach kurzer Verwunderung wird der Inhalt der angebotenen Tüte meist rasch von mehreren begutachtet, dann wird eingeschlagen. Man ist offensichtlich zufrieden mit dem Handel, denn mehrfach bekommen wir besonders große Früchte, die große Schale Himbeeren oder ungefragt zwei Stücke Kuchen. Wir fühlen uns auch gut dabei, denn wir haben auf Augenhöhe miteinander Handel betrieben und niemand wurde mit einem unerwiderten Geschenk erniedrigt.

 

Anders ist das natürlich bei Wan Smolbag, für die wir auch noch einiges an Bord haben. Positiv fällt uns auf, dass die Schwester der Sanitätsstation sich von den Medikamenten, Verbands- und Pflegemitteln, die wir ihr anbieten, gezielt nur die Sachen rausnimmt, für die sie Bedarf hat. Stück für Stück gehen wir zusammen durch, was genau wir abzugeben haben, klären, ob die Anwendung klar ist und ob sie Verwendung dafür hat. Mit den meisten Wirkstoffen ist sie vertraut, ihre Entscheidungen sind sicher, zu allem macht sie sich Notizen. "Die restlichen Medikamente gehen ans Rote Kreuz", haben wir ihr vorher gesagt, da uns das Rote Kreuz als in Vanuatu sehr gut arbeitende Hilfsorganisation genannt wurde, wo wir einen Großteil der Bordapotheke abgeben wollen. Auch diese Auskunft haben wir übrigens von der Tourist Info. Die Damen dort verstehen sich tatsächlich als Ratgeber für die Besucher Vanuatus, in egal welcher Angelegenheit. Im Vergleich zu manch anderem Tourismus-Amt, wo einem irgendjemand gelangweilt einen Stadtplan und ein paar Zettel aushändigt, ein paar Kringel drauf malt und schon mit einfachen Fragen überfordert ist, ist der Umgang mit den Beraterinnen in Vilas Tourist Info wohltuend.

 

Ein paar englischsprachige Bücher wandern in Wan Smolbags Bücherei, die Jugendarbeiterinnen freuen sich sehr über zwei Webrahmen und wollen sofort vorgeführt bekommen, wie man sie benutzt, und am allerglücklichsten machen wir den Chef der Feuertanzgruppe, von dem Lucy weiß, dass er gerade genauso ein stabiles Gewebeband kaufen will, wie wir als Material für irgendwelche Bastel-Bau-Vorhaben abzugeben haben. "Kommt doch am Freitag zu unserem Auftritt" werden wir eingeladen. "Unsere Feuertänzer sind echt gut, sie sind sehr bekannt in Vila und Umgebung. Ihr könnt mit dem Taxi-Bus von Vila nach Mele Bay kommen oder auch mit Eurem Schiff, man kann dort gut ankern." Eigentlich haben wir in Samoa ja schon genug Feuertanz gesehen – aber warum eigentlich nicht – vielleicht ist hier alles ganz anders. Wie Recht wir mit dieser Vermutung haben, erleben wir zwei Tage später. Wan Smolbags Feuertänzer treten als Show-Gruppe zu fetziger Musik und mit einem vielseitigen Programm auf. Hier finden wir all die Elemente, die wir in Samoa vermisst haben. Besonders gut gefällt uns, dass zwei junge Frauen Feuertänzerinnen sind, die häufig im Mittelpunkt des Programms stehen. Wie viel Mut und Entschlossenheit müssen diese beiden besitzen, um sich diese Position zu schaffen? Diese Feuertänzerinnen werden andere Frauen und Mädchen dazu beflügeln ihre eigenen Träume in die Tat umzusetzen.

 

Etwas weniger begeistert sind wir vom Roten Kreuz. Dort nickt die Chefin eher gelangweilt und kommentarlos zu allen angebotenen Medikamenten und Pflegemitteln. Ob ihre Organisation tatsächlich auch Zahnärzte ausstattet oder ob Zement und Spachtel hier in einer Kammer verstauben werden, werden wir nicht erfahren. Dennoch kommt uns noch die Idee, dass wir einen Kurierdienst fürs Rote Kreuz übernehmen könnten. Das Angebot kommt der Chefin gelegen, denn tatsächlich gibt es Güter, die von Vila nach Tanna, unserem nächsten Reiseziel geschickt werden sollen. Wir verabreden die Entgegennahme in ein paar Tagen.

Begegnung mit Aloï Pilioko

Vom Roten Kreuz aus sind es nur noch wenige km bis zur Michoutouchkine und Pilioko Foundation Art Gallery, die weit oben auf Empfehlungslisten für Unternehmungen in Vila steht. Das Künstler- und Kunstsammlerpaar Nicolaï Michoutouchkine und Aloï
Pilioko ist in Vila sehr bekannt. Piliokos farbenfrohe primitive Gestalten zieren u.a. die Fassade der Post in Vila. Das Haus, in dem sich die Tourist Info befindet, heißt Pilioko-Haus. Die Gärten und Gebäude der Stiftung enthalten Kunstgegenstände aus dem gesamten ozeanischen Raum, die Nicolaï jahrzehntelang auf ausgedehnten Reisen und durch viele persönliche Kontakte gefunden und erworben hat. Seinen Ausstellungen ist es zu verdanken, dass ozeanische Kunst aus abgelegenen Dörfern heraus kam und weltweit Beachtung fand.

 

"Pilioko ist da, er ist hinten beim Haus", sagt ein Gärtner, dem wir auf dem Gelände der Stiftung, am Ufer der Eraktor-Lagune begegnen. Der Weg zum Haus führt durch einen kleinen tropischen Dschungel, in dem überall schwarze Skulpturen stehen, sogenannte Fern Figures. Sie werden aus den Stämmen von Farnbäumen geschnitzt und sind eine traditionelle Kunstform Vanuatus. Rechts und links des Weges stehen offene Pavillons, in denen Kunsthandwerk und Gemälde von fragwürdiger Qualität ausgestellt sind. Einiges davon kann gekauft werden, der Besuch des Anwesens soll 1.000 Vatu (€ 8.20) kosten, besagen Schilder. Das Anwesen suggeriert, dass hier jahrzehntelang zwei exzentrische Kunstliebhaber gelebt, gearbeitet, gelehrt und gefeiert haben. Wir finden Pilioko in seiner Boutique, wo er handbemalte Kleidung anbietet. Er selbst trägt einen schrägen Farb- und Mustermix: Unter einem schwarz-weiß gemustertem Hemd ein mit blauen Mustern handbemaltes T-Shirt sowie einen gelb-schwarzen Hut mit rotem Blumenkranz, der Erinnerungen an die Tigerente aufblitzen lässt. Die Augen des alten Herren sind getrübt und er geht langsam, ansonsten macht er einen rüstigen Eindruck. Nicolaï ist 2010 gestorben, erzählt Pilioko sogleich. Ohne Nicolaï ist es hier draußen ruhig, wir können uns nicht vorstellen, dass noch viele Besucher herkommen.

 

Pilioko führt uns ins Haupthaus, wo im EG ein Sammelsurium aus Kunst und Kitsch fast jeden Quadratmeter füllt. Der zentrale Tisch ist ein Schrein für Nicolaï. Um sein Foto herum hat Aloï Gegenstände gruppiert, die Nicolaï gerne mochte: Vasen, Tassen, Maskottchen, Kunstblumen, Skulpturen - unsere Augen können das alles gar nicht erfassen. An den Wänden hängen vornehmlich knallbunte, flächige Gemälde von Pilioko, in denen die Figuren stets riesige mandelförmige Augen haben. Im ersten Stockwerk liegen auf einem großen Tisch die Skizzenmappen von Nicolaï, sauber geordnet nach Jahren. Alle Wände, Türen und selbst die Fenster sind mit grafischen Mustern in vielen Grundfarben bemalt. Russlands Präsident Putin ist auf diesem Stockwerk ein Schrein gewidmet, unweit von Piliokos buntem Badezimmer. Das Haus ist ein bewohntes Kunstwerk. Von den vielen traditionellen Kunstwerken Ozeaniens - die Sammlung der beiden umfasst ca. 6.000 Gegenstände - ist nicht viel zu sehen, der bunte Kitsch und Piliokos Bilder überstrahlen alles. Vielleicht sind die wertvollen Sachen ja an Museen ausgeliehen, wo sie mehr Beachtung finden. 400 Objekte sind alleine für zehn Jahre ans Museum Pasifica in Bali ausgeliehen.

 

Als ich Pilioko sage, dass Gelb offenbar seine Lieblingsfarbe ist, beginnt er aufzutauen. Vielleicht weil er merkt, dass wir beim Durchstreifen des Hauses gründlich hinschauen. Fotos dürfen wir so viele machen wie wir wollen. Als wir schließlich zahlen und gehen wollen, will er von Geld nichts wissen sondern lädt uns auf einen Wodka ein. Einen guten öligen Wodka, den Nicolaï noch mit Früchten aromatisiert hat. Es ist zwar helllichter Nachmittag, aber wir können ihm die Bitte schlecht ausschlagen, er macht einen etwas einsamen Eindruck. Offenbar freut sich Pilioko über den unerwarteten Besuch und möchte diesen verlängern. Am riesigen gelben Tisch auf der Terrasse beginnt er uns aus dem bewegten Leben der Beiden zu erzählen. Wodka 2, 3 und 4 folgen, es gibt viel zu erzählen. Mittlerweile mögen wir den schrägen Vogel richtig gern, aber wir müssen zusehen, dass wir nach Vila zurückkommen, solange noch Taxibusse fahren.

 

Als wir den Besuch bei Pilioko noch mal Revue passieren lassen geht uns auf, dass das Leben der beiden Sammler sozusagen die Antithese zu unserem eigenen Leben ist. Zwar sind auch die beiden durch die ganze Welt gereist, das verbindet uns - aber bei uns ist alles aus das Notwendigste reduziert (Rucksack-Reisende als Maßstab mal ausgenommen...), während sie unzählige Gegenstände angehäuft und zu einem Ensemble verwoben haben. Wahrscheinlich mussten wir hierher kommen um festzustellen, dass trotz aller Freude an der Reduktion auch ein solcher, in Opulenz schwelgender Ort, Anziehungskraft auf uns ausübt, und dass auch wir gerne Zeugnisse unserer Reise mit nach Hause nehmen möchten.

Souvenirkauf mit Zitterpartie

Eine Galerie an Vilas Hauptstraße bietet mannshohe Farnfiguren und großformatige Holz-Schnitzereien an. Die stehen wohl eher für Hotel-Architekten hier als für Touristen. Für Leute wie uns gibt es Miniaturen von Schlitztrommeln und von traditionellen Figuren. Hin und her gerissen nehmen wir alle Dinge unter die Lupe, die wir uns leisten könnten und die wir irgendwie transportiert bekämen. Bei genauem Hinsehen hat allerdings jedes Stück einen oder mehrere Makel. Mal ist es gar keine echte Schlitztrommel, mal gefällt uns das Holz nicht, mal ist die Schnitzerei an sich wenig raffiniert. Nein, wenn wir schon ein Souvenir kaufen, dann soll es gute Qualität haben. Am Morgen vor unserer geplanten Abfahrt aus Vila fällt uns ein, dass wir noch von einem weiteren Anbieter gelesen haben, "Handikraf Blong Vanuatu", laut Reiseführer eine Non-Profit-Organisation. Dort entdecken wir in einer dunklen Ecke eine mittelgroße Skulptur, die unsere Aufmerksamkeit erregt: mehrere übereinanderstehende Masken, handwerklich und künstlerisch gut gemacht und aus einem schönen dunklen Holz. Der Besitzer ist gerade nicht im Laden. Wir sollen am Nachmittag wiederkommen, am Preis sei bestimmt noch einiges zu machen, sagt uns eine Mitarbeiterin. Und dass es wahrscheinlich mindestens 24 Stunden brauchen wird, um die notwendigen Papiere für die Ausfuhr-/ Importgenehmigung zu bekommen. Gegenstände aus Holz werden nämlich von australischen und neuseeländischen Behörden bei der Einreise ins Land häufig abgelehnt. Man hat Angst vor Holzschädlingen, die ins Land eingeschleppt werden könnten. Daher müssen alle Sachen aus Holz zuvor von einer akkreditierten Stelle ausgeräuchert und die Unbedenklichkeit bescheinigt werden. Das kostet und das dauert.

 

Wenn das Holz lackiert wird, ist der ganze Auswand nicht nötig. Doch Lack kommt nicht infrage und fürs Ausräuchern haben wir keine Zeit. Selten genug herrscht Wind, der es zulässt von Efate nach Tanna zu segeln und solchen Wind bekommen wir morgen. Wir laufen in aller Herrgottsfrühe aus, das steht fest, mit oder ohne Souvenir! Aber wir hätten es schon gerne. In diesem Fall kann auch die Tourist Info nicht viel für uns tun. Man sagt uns nur, wo das Amt ist, das die Zertifikate ausstellt und dem die Schnitzerei vorgelegt werden muss und telefoniert wegen der Öffnungszeiten. "Um was für eine Schnitzerei geht es denn", werden wir gefragt. "Ach, die" lautet die vieldeutige Antwort, als wir sie beschreiben. Wir schließen daraus, dass das gute Stück schon lange einen Liebhaber sucht. Der Besitzer, den wir am frühen Nachmittag im Laden antreffen, gibt uns dasselbe Gefühl, als der bei der ersten Frage, was die Skulptur denn wirklich kosten soll, den Preis sofort um 33% senkt. Langwierige Verhandlungen erübrigen sich damit, wir sind kaufwillig, vorausgesetzt es gelingt uns, die notwendigen Papiere zu bekommen. Andrew Tovovur, der Besitzer will die natürlich genauso sehr wie wir und verspricht sich dafür ins Zeug zu legen. Nach kurzem Aufpolieren mit farbloser Schuhcreme sitzen wir zu dritt im Taxi, die Skulptur zwischen uns. Sie stammt von der Insel Erromango, erzählt Andrew, und dass er, seine Brüder und sein Vater alle Künstler sind. Wir fahren zum Department of Land and Forestry. Der junge Mann, bei dem Andrew zuerst vorstellig wird, kann nichts entscheiden, alle anderen sind in einer Konferenz. Wir werden zu einem Schalter geschickt, wo wir 2.000 Vatu bezahlen müssen. Dafür erhält Andrew eine Export-Genehmigung. Ab da wird es haarig. Man ist der Meinung, dass die Skulptur auf jeden Fall ausgeräuchert werden muss. Wir werden sauer, denn dass wir dafür nicht genügend Zeit haben, war allen Anwesenden von Anfang an bekannt. Es wird rumtelefoniert. Eine resolute Dame erklärt mir freundlich, dass sie da leider keine Ausnahme machen könne. Ich erkläre ihr, dass wir die Skulptur dann eben nicht kaufen können und frage sie, warum wir dann soeben 2.000 Vatu bezahlt haben. "Was, wofür haben Sie die denn bezahlt?" Ich reiche den Hörer weiter, das sollen die Herren ihr erklären. Das Geld wollen wir zurück haben, sollten wir hier erfolglos bleiben. Schließlich erscheint ein höherer Angestellter, der sich alles nochmals erklären lässt, dann die Skulptur genauestens untersucht und schließlich entscheidet, dass man uns ein Unbedenklichkeits-Zertifikat ausstellen kann, auf dem steht, dass es eine optische Prüfung gegeben hat. Wir müssen nochmal 1.200 Vatu bezahlen, dann schließlich haben wir das erforderliche Papier in den Händen. Geht doch, freuen wir uns am Ende eines langen Tages!

 

Der Umgang mit den Menschen in Vila ist sehr angenehm: Es herrscht gesunder Menschenverstand und die Leute handeln dementsprechend. Auffallend ist auch, dass wir es in allen Entscheidungspositionen mit Einheimischen zu tun haben, dass die ganzen Ausländer nur Besucher zu sein scheinen. Auch die Chefin vom Yachtclub ist eine Ni-Vanuatu. Sie weiß genau, welche Gasflaschen der Gashändler füllen kann und welche nicht und teilt uns das mit, obwohl wir noch nicht mal Gäste sind. Die Empfangs-Herren vom Grand Hotel (wo wir ebenfalls keine Gäste sind), die auch nicht wissen wo der Ciné Club ist, von dem wir in der Tourist Info gelesen haben ohne die Adresse zu notieren, ärgern sich über die Wissenslücke. Nach einer kurzen erfolglosen Internet-Recherche kündigen sie an, dass sie sich morgen früh, sobald das Büro wieder besetzt ist, schlau machen werden. Ja, genau so wünscht man sich das. Sehr viele Leute in Vanuatu wollen ihre Sache gut machen und sehr viele sind wissbegierig, um noch besser zu werden. Auf das uns im Alltag daheim vertraute "gesunde Misstrauen" können wir hier getrost verzichten. Niemand gibt Grund argwöhnisch zu sein. Es ist einfach nicht üblich andere übers Ohr zu hauen. Die Welt scheint hier noch ziemlich in Ordnung zu sein, Vanuatu ist eine echte Entdeckung!

 

Dass wir mit dieser Einschätzung nicht uneingeschränkt Recht haben, entdecken wir, als wir aus auf eine kleine Wanderung zu einer angeblich guten Bäckerei machen. Der kürzeste Weg führt über einen Hügel, auf dessen höchsten Punkt die Villa eines hohen Staatsbeamten liegt. Der hohe Zaun der Villa grenzt bis an den Rand des Hügels, der auf der anderen Seite steil abfällt. Ein Trampelpfad führt ins nächste Tal hinab, wo unser Ziel liegt. Zwischen Trampelpfad und Zaun der Villa sieht es aus wie auf einer Müllkippe. Der ganze Unrat kann nur von oben kommen. Offiziell hat Vanuatu eine funktionierende Abfallwirtschaft, aber die Angestellten scheint das wenig zu interessieren. Oder sind offizielle Bekundungen doch weit weg von der Realität des Alltags? Überhaupt gibt es viel Kritik an der Regierung, aber wo gibt es die nicht?

 

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Weiterlesen: Vanuatu Teil 2: Tanna